Sturmherz
Schuhen. Sand knirschte. Gut möglich, dass der Selkie über weitaus feinere Sinne als ein Mensch verfügte und ihn längst gehört hatte. Er hoffte sehr, dass es so war, obwohl der Wissenschaftler in ihm Protest anmeldete.
Feuchtes Gras schmatzte unter seinen Schuhen. Der Mond betupfte das Meer mit silbrigen Glanzlichtern. War ihm zuvor kalt gewesen, begann er jetzt zu schwitzen. Vor ihm in der Dunkelheit schimmerte Ruths Haar unter der schwarzen Wollmütze hervor. Einer Katze gleich huschte sie dahin, warf sich am Rand der Klippe auf den Boden und lugte hinunter. Von dort aus hatte man den Abschnitt der Bucht, zu dem sich der Selkie und das Mädchen offenbar begeben wollten, bestens im Blick.
„Verdammt!“
Noch ehe er neben ihr zu Boden sank, wusste Aaron, dass sie zu spät gekommen waren. Erleichterung ging Hand in Hand mit einem Frust, den er gerne verdrängt hatte. Bewies diese Regung doch, dass er nicht ausschließlich gut war.
„Wo ist er?“, fauchte Ruth. „Sieht du ihn?“
Aaron ließ seinen Blick schweifen. Schroffe Felsen, sprudelnde Gischt, schwarzes Wasser. Nirgendwo ein blasser Körper oder ein silbernes Fell. Der Junge und seine Begleiterin waren wie vom Erdboden verschluckt.
„Nein.“ Aaron schlug mit der flachen Hand auf den Boden. „Nichts. Diese Stelle ist verdammt unübersichtlich. Keine Möglichkeit runterzukommen. Jedenfalls keine, die uns nicht an denen da vorbeiführt.“ Er nickte zu den feiernden Jugendlichen hinüber.
„Scheiße!“ Ruth blickte durch das Nachtsichtgerät und schwenkte es minutenlang hin und her. Schließlich warf sie es mit einem leisen Fluch beiseite und ließ sich nach hinten kippen. Rücklings lag sie da, den Blick in den Himmel hinaufgerichtet. Sie hätte wütender sein sollen. Sehr viel wütender. Es jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken, dass diese Frau derart ruhig blieb. Ja, sie lächelte sogar.
„Weißt du etwas, das ich nicht weiß?“ Jetzt, da er Ruth wieder nah war und die Wärme ihres Körpers spürte, verwandelten sich seine Eingeweide in einen gärenden Knoten. Irgendwann, das schwor er sich, würde er sie einfach packen, festhalten und küssen, ungeachtet der Tatsache, dass er sie für ein Miststück hielt. Und sich anschließend mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von seinen Zähnen verabschieden.
„Vielleicht.“ Ruth stützte sich auf den Ellbogen ab und starrte auf das Gewehr. „Es ist eher eine Ahnung.“
„Eine Ahnung?“
„Das wird das letzte Mal gewesen sein, dass er uns entkommt.“ Ihre Miene gewann etwas Feierliches. „Das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist.“
„Dir ist nichts heilig, Ruth.“
„Na gut.“ Sie zuckte mit den Schultern wie ein vergnügtes Mädchen. „Dann schwöre ich einfach nur.“
„Und was willst du jetzt tun?“
„Meiner Intuition folgen. Meinen Instinkten. Genauso wie er es tut. Bis heute hat er erfolgreich den Menschen gemimt. Jetzt wird der Ruf des Meeres zu stark, um ihm zu widerstehen. Das Schauspiel schwächt ihn. Einerseits liebt er dieses Mädchen, andererseits verlangt das Tier in ihm sein Recht. Ich glaube, es ist der Vollmond.“
„Wie kommst du darauf?“
„Hast du sein Gesicht gesehen? Seine Haltung?“
„Nein.“ Aaron schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Darf ich dich daran erinnern, dass du während des gesamten Abends nur dreimal das Nachtsichtgerät rausgerückt hast? Jeweils für geschätzte fünf Sekunden?“
„Alles an ihm drückte Sehnsucht aus.“ Sie überging seine bissige Bemerkung. Ihre Stimme klang versunken, gar schwärmerisch. „Ein geradezu unbändiges Verlangen. Er starrte den Mond und das Meer an, als wäre er am Verhungern, und als könnten nur diese beiden Kräfte seinen Hunger stillen.“
„Der Mond und das Meer.“
„Richtig. Wir müssen nicht lange warten, bis er zurückkommt.“ Sie streckte den Arm aus und strich liebevoll über den Lauf des Gewehres. Ein Geräusch ertönte, als sei jemand in das Wasser gesprungen, woraufhin Ruth mit der Schnelligkeit einer Schlange hochfuhr und sich über den Rand der Klippe beugte. Kreisförmige Gischt schäumte auf dem schwarzen Spiegel des Wassers, doch keine Gestalt war zu sehen. Weder ein Tier noch ein Mensch.
Ruths Lächeln schwand und wich einer kalten, versteinerten Maske. „Schon morgen haben wir unseren Beweis“, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich verspreche es dir.“
Kapitel 11
Der Schmerz von Lüge und
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