Sturmherz
Wahrheit
„Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll,
benetzt ihm den nackten Fuß.
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll,
wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm.
Da war’s um ihn geschehn.
Halb zog sie ihn, halb sank er hin,
und ward nicht mehr gesehn.“
Johann Wolfgang von Goethe
~ Mari ~
I ch war zutiefst verwirrt.
Ein großer Teil in mir beneidete Louan. Hätte ich mein Menschsein nur abstreifen und mit ihm gehen können. Ich wollte an seiner Seite schwimmen, bis das Land hinter uns verschwand. Bis uns nur noch die tiefe, blaue See umgab. Ich wollte schwimmen, bis wir alles vergaßen. Doch mitten durch diese Sehnsucht bohrte sich eine Frage: Was wäre passiert, wären Aaron und Ruth nicht aufgetaucht?
Hätte Louan von mir abgelassen? Oder hätte er sich genommen, wonach es ihn verlangte?
Noch immer glühte mein Körper lichterloh. Ich hatte es gewollt, und doch wieder nicht. Angesichts meines Protestes war sein Griff nur noch fester geworden. Verlangender. Unnachgiebiger.
Scharfer, wilder Atem. Hungrige Blicke. Seine Hände, überall. Dann seine Stimme, kaum mehr als ein vernunftloses Knurren.
Ich brauche dich. Ich will dich. Hier und jetzt.
Schaudernd blickte ich auf das silberne Glänzen seiner Muschel, die in meiner Hand lag wie eine Perle in der Auster. Eine Bitte klang anders als diese Worte. Wären die Jäger nicht aufgetaucht, hätte ich vielleicht erfahren, wie viel Macht Selkies über den menschlichen Willen besaßen.
„Wo ist er hin?“ Alice plumpste aus heiterem Himmel neben mich und zog einen Schmollmund. Schnell schloss ich meine Faust um die Muschel. Ich empfand keine Lust darauf, zu erklären, warum er sie abgenommen hatte.
„Kommt er wieder? Was habt ihr da hinten getrieben? Nur geknutscht oder mehr?“
„Nichts weiter.“ Frustriert zog ich die Beine an meinen Körper und schlang die Arme um meine Knie. Das Meer sah wunderschön aus in dieser Nacht. Hätte Louan doch nur zwei Seehundfelle mehr. Eines für mich, eines für Dad. Aus irgendeinem Grund waren die Verkäufe der letzten Tage wieder in den Keller gerutscht. Der kleine Aufschwung hatte nicht einmal für die Hälfte der Schulden gereicht. Aber selbst wenn das so wäre – hatte Louan nicht gesagt, die Verwandlung sei für Menschen tödlich? Und was bedeutete es überhaupt, ihm zu vertrauen? Dort hinten in der Dunkelheit hatte er mir bewiesen, wie unkontrollierbar das Tier in ihm sein konnte.
„Er will eine Weile allein sein“, murmelte ich. „Wir sind beide keine Partymenschen.“
„Oh.“ Alice seufzte entzückt. „Er ist sensibel, nicht wahr? Ein Einzelgänger. Ein echter Naturbursche. Sag mal, wie hat er diese Strähnen hinbekommen? Ich könnte schwören, sie sind silbern. Ich meine richtig silbern. Wie das da.“ Sie deutete auf meinen keltischen Anhänger.
„Keine Ahnung. Vermutlich irgendeine neumodische Farbe.“
„Fragst du ihn mal?“
Ich nickte gedankenverloren. Wie naturverbunden Louan wirklich war, würden sie nie erfahren. Irgendwo dort draußen war er zu einem Teil des Ozeans geworden. Sein tierhaftes, unberechenbares Verhalten hatte mich einmal mehr davon überzeugt, dass ich Illusionen nachjagte. Ich versuchte, ein Raubtier zu zähmen, das im einen Moment schnurrend neben mir lag und mich im nächsten angriff.
Ich schauderte. Seltsamerweise steigerten diese düsteren Gedanken meine Sehnsucht. Nie hatte das Wasser verlockender ausgesehen als heute Nacht.
Welche Wunder lagen unter seiner mondbeschienenen Oberfläche? Welche fantastischen Dinge würde ich nie sehen, weil ich gefangen war in diesem Körper?
Louans Es tut mir leid hatte ehrlich geklungen, oder etwa nicht?
Mit einem Stoßseufzer ließ ich mich rückwärts in den Sand fallen. Jemand drehte die Musik lauter, Alice und Suzie sprangen auf und begannen zu tanzen. Ihr Alkoholpegel war inzwischen hoch genug, um keinen Gedanken länger als zwei Sekunden festzuhalten, es sei denn, er drehte sich um noch mehr Alkohol. Sie drehen sich im Feuerschein, lachten und genossen das Leben, als gäbe es kein Morgen mehr.
Ich steckte Louans Kette in meine Hosentasche und wünschte mir, ich hätte es meinen Freunden gleichtun können.
Eine Stunde verging. Zwei Stunden vergingen. Doch Louan kehrte nicht zurück. Meine Unruhe wuchs ins Unerträgliche. Was, wenn sie ihn erwischt hatten? Ich zweifelte nicht daran, dass er vorsichtig war, doch manchmal war das nicht genug.
Während der Alkoholpegel meiner Freunde in astronomische
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