Sturmherz

Höhen stieg, wanderte ich ruhelos umher, suchte die Klippen nach Ruth und Aaron ab, blickte auf das Meer hinaus und war kläglich darum bemüht, nicht allzu auffällig zu wirken, nur für den Fall, dass man mich beobachtete.
    Alice kramte, inzwischen kaum mehr dazu fähig, aufrecht zu stehen, eine CD mit Siebziger-Jahre-Musik heraus. Tatsächlich gelang es ihr nach einem Dutzend Versuchen, sie einzulegen. Zu Paloma Blanca , Rivers of Babylon und Under the moon of love ergingen sich alle in seltsamen Verrenkungen, johlten, gackerten und grölten, rollten sich im Sand herum oder bewarfen sich mit Tang. Allein ich saß am Feuer, starrte in die Flammen und dachte an meinen Selkie. Gut möglich, dass er die Zeit vergessen hatte. Unter Wasser verlor man wahrscheinlich jedes Gefühl dafür. Insbesondere, wenn man von Paarungswut befallen war. Ob er sich zur Not über das nächstbeste Seehundweibchen hermachte? Gewissermaßen war er ein Tier, genauso, wie er ein Mensch war. Wenn er in Seehundgestalt eine Seehündin liebte und in Menschengestalt einen Menschen, wäre also beides natürlich. Andererseits verursachte mir die Vorstellung, er könne sich dort draußen mit einem dieser drallen, blökenden Tiere vergnügen, mehr als nur eine Gänsehaut. Nein, ich wollte nicht daran denken. Am liebsten wollte ich gar nicht mehr denken.
    „Süße!“ Alice fiel wie ein Blizzard über mich her. „Komm schon, amüsier dich. Dein Adonis taucht schon wieder auf.“
    „Später“, blockte ich ihr Drängen ab. „Mir ist gerade nicht danach.“
    „Später?“ Alice stieß ein Lachen im Ultraschallbereich aus. Ihr Atem roch wie eine ganze Schnapsbrennerei. „Die Nacht ist schon tief. In zwei Stunden geht die Sonne auf. Komm schon, lass dich nicht hängen.“
    Sie tänzelte und stolperte davon. Ich blieb zurück, legte ein paar Scheite auf das Feuer und spürte, wie meine Sorge sich in Wut verwandelte.
    Wut auf Louan, der mich mit meinen Sorgen und meiner Verwirrung allein ließ, und vor allem Wut auf Ruth und Aaron, deren Präsenz mir tagein, tagaus wie ein kalter Atem im Nacken hing.
    Paul begann, sich auszuziehen, warf in Striptease-Manier Hemd und Hose beiseite und schwankte auf das Wasser zu.
    „Spinnst du?“, lallte Suzie. „Das ist irre.“
    „Lass das“, grölte jemand. „Du weißt, dass man hier nicht schwimmen darf.“
    Doch der stockbesoffene Paul stolperte eifrig weiter. Mit einem gutturalen Brunftschrei stürzte Stephen hinterher, riss seinem Freund im Vorbeisprinten die Unterhose weg und hechtete ins Wasser. Krakeelend kroch Paul auf allen Vieren hinterher.
    „Idioten!“, fluchte Alice. „Die bringen sich um und wir kriegen Ärger.“
    Benebelt vom reichlichen Alkoholgenuss, endete der Hauch von Sorge kurz darauf in hemmungslosen Lachanfällen. Ich rollte mich am Feuer zusammen, zog eine der Decken bis zur Nase hoch und starrte ins Leere.
    Les Humphries Singers schmetterten ihr We’ll fly you to the promised land .
    „Come and spread your wings”, sang ich leise mit. „We’ll fly you to the promised land, the promised land.”
    Die Mädchen fassten sich an den Händen und drehten sich im Kreis, sofern sie dazu noch in der Lage waren, während die Jungen versuchten, sie mit Wasser zu bespritzen. Das hier war ein seltsamer Film, der auf einem winzigen Bildschirm lief, und ich war nur ein Zaungast, der sich fragte, wie er hier hineingeraten war.
    Ohne es zu bemerken, fiel ich in einen erschöpften Halbschlaf. Als kreischende Stimmen an mein Ohr drangen, nahm ich sie zuerst wie im Traum wahr. Sie kamen näher und entfernten sich, wurden lauter, dann wieder leiser. Ich hörte Namen heraus.
    Stephen, Paul, Scheißvieh.
    Scheißvieh? Abrupt fuhr ich hoch. Mutterseelenallein lag ich am fast heruntergebrannten Feuer, niemand war zu sehen.
    Doch, dort hinten waren Schatten.
    Kreischend sprangen sie auf den Felsen herum und bewarfen irgendetwas mit Steinen.
    „Verschwinde!“, hörte ich Alice schreien. „Lass ihn in Ruhe, du blödes Vieh!“
    „Hol deinen Vater!“, brüllte Paul. „Wir brauchen das Gewehr.“
    „Das ist doch eins der Viecher, nach denen gerade gesucht wird.“
    „Dafür gibt’s ’ne Belohnung.“
    „Hast du noch alle Latten im Zaun, Alter? Der bringt ihn gerade um.“
    Ein Mädchen rannte Hals über Kopf los und verschwand in der Dunkelheit. Ein Zweites folgte ihm kreischend. Die anderen warfen weiter Steine und wedelten schreiend mit den Armen.
    Wie ferngesteuert sprang ich auf und