Sturmherz
gebracht.
Taumelnd rannte ich in die Nacht hinaus. Niemand sah, dass Tränen über meine Wangen liefen. Niemand bemerkte überhaupt, dass ich verschwand.
Die plötzliche Ruhe überrumpelte mich. Überwältigt von Hilflosigkeit stand ich am Rande der Klippe und starrte auf unser Haus. Stephen war auf dem Weg ins Krankenhaus, begleitet von Paul. Die Mädchen waren nach Hause gefahren, um sich auszuheulen. Unten in der Fischerkneipe entstanden vermutlich gerade haarsträubende Schauermärchen über menschenfressende Seehunde.
Was hatte ich nur angerichtet?
Wäre ich doch niemals nach Skara Brae gefahren. Hätte ich doch die Dinge so belassen, wie sie von der Natur bestimmt waren. Mein Vorhaben, Louan in ein normalsterbliches Leben zu integrieren, war in einem Desaster geendet. Ein Junge war schwer verletzt, zwei Wissenschaftler stellten ihm nach wie ausgehungerte Jagdhunde, eine Horde Fischer bereitete die Jagd auf ein gefährliches Tier vor.
Schlimmer hätte es kaum enden können.
Unser Haus zeichnete sich als Schattenriss vor einem dunkelblauen Morgenhimmel ab. Ich blickte nach rechts, dorthin, wo die Klippen in den von Gras gesäumten Strand übergingen. An Schlaf war nicht zu denken. Selbst wenn ich müde gewesen wäre, hätte ich mich nicht meinen Träumen ausliefern wollen.
Tau funkelte auf dem Gras. Die Stille des Morgens vermochte mich diesmal nicht zu verzaubern. Ich zog meine Schuhe aus und lief barfuß die Klippen entlang zum Strand. Vielleicht würde Louan nicht zurückkehren. Es war das Beste, auch wenn der Gedanke daran mir Übelkeit bereitete.
Dutzende Kutter strebten in alle Richtungen auf das Meer hinaus, umgeben von der Aura heuchlerischer Idylle. MacMuffins Boot sah ich nicht darunter, was mich nicht überraschte. Denn diesmal jagten die Männer keine Fische. Sie waren auf der Suche nach einem Seehund, der Menschenblut geleckt hatte, und Hetzjagden wie diese waren nicht MacMuffins Art.
Jetzt blieb mir nur die Hoffnung, dass Louan seine Sinne wieder beisammen hatte. Meine Hand grub sich in die Hosentasche und tastete nach der Muschel. Gut möglich, dass dieses kleine Artefakt alles sein würde, was mir von ihm blieb.
Abgesehen von den Erinnerungen.
Den Sand unter meinen Füßen zu spüren, erinnerte mich an unser erstes Treffen auf Skara Brae. Der Geruch des Windes an das Aroma seiner Haut.
In weniger als einer Stunde würde die Ebbe einsetzen. Die Sonne würde auf dem Watt schimmern und funkeln, Möwen und Austernfische nach Beute suchen. Welch ein trügerischer Frieden. Die Dinge kamen und gingen unverändert seit Ewigkeiten. Der Mensch war nicht mehr als ein flüchtiger Gast in diesem Spiel, und dass ich vor Angst verging, interessierte das Universum nicht.
Angst davor, Louan verloren zu haben.
Angst davor, dass er nicht der war, für den ich ihn hielt.
Ich setzte mich auf einen Felsen und sah zu, wie das Licht der Morgendämmerung über die See kroch.
Ganz still saß ich da, wie eingefroren in der Zeit, bis eine helle Gestalt den Wellen entstieg.
Alles in mir verkrampfte sich. Mein Herz rutschte in Höhe des Magens. Als das silberne Fell aufplatzte und menschliche Haut entblößte, blickte ich beiseite. Nirgendwo war jemand zu sehen. Vielleicht befanden sich Aaron und Ruth auf den Weg ins Krankenhaus, um Stephen zu löchern. Oder sie waren den aufgebrachten Fischern in die Quere gekommen.
Erst, als ich im Augenwinkel sah, wie ein nackter Mensch auf mich zukam, wandte ich mich um.
Das Blut gefror mir in den Adern.
Es war nicht Louan!
Vor mir stand eine hochgewachsene, muskulöse Gestalt mit wildem, dunkelblondem Haar und hellgrauen Augen. Eine Gestalt, die ich schon einmal gesehen hatte, an einem einsamen Strand nicht weit von hier. Der grausame Zug um Raers Mund signalisierte Gefahr und ließ mich erstarren.
Er musterte mich, ungeniert und gierig. Halb verheilte Kratzer prangten auf seiner Brust und auf seinen Oberschenkeln. Hatte er erneut mit Louan gekämpft?
Als er tief durch die Nase einatmete, wusste ich, dass er meinen Geruch aufnahm. Schauer flossen durch seinen Körper. Nichts an diesem Wesen erinnerte an Louan, obwohl sie Artgenossen waren. Raer strahlte eine andere Form von Wildheit aus. Sein Blick war der eines gierigen, triebgesteuerten Jägers.
Nein, korrigierte ich mich, letzte Nacht, als Louan mich gegen die Felsen gedrückt und geküsst hatte, war ein ganz ähnlicher Ausdruck in seinem Blick aufgetaucht.
Der Rausch …
Was richtete er mit einem Selkie an,
Weitere Kostenlose Bücher