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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Grinsen auf den Lippen, griff er sich beide Felle und ging rückwärts zum Wasser.
    „Du hast nicht das Recht dazu“, schrie ich ihm hinterher. „Du hast verloren, als wir um sie gekämpft haben. Denke an die Gesetze unserer Ahnen. Erst wirfst du mir vor, ich hätte sie beleidigt, jetzt tust du es.“
    „Was kümmern uns alte Gesetze? Wir sind die Letzten, die übrig sind. Unsere Freiheit ist grenzenlos.“ Er stürzte sich in die Wellen, noch ehe ich es schaffte, mich hochzustemmen. Ungläubig sah ich ihn als Seehund in der Tiefe verschwinden, mein Fell in seiner Schnauze haltend. Er würde Mari zwingen, sich mit diesem Teil von mir zu vereinen, und wenn sie die brutale Verwandlung überlebte, würde sie ihm gehören. Mit ihrem Körper und ihrer Seele. Ich wusste nur von zwei Menschen, die auf diese schändliche Weise versklavt worden waren. Meine Mutter hatte mir viel davon erzählt. Seit ich denken konnte, war man in meiner Herde uneins darüber gewesen, ob eine solche Tat schändlich war oder unter bestimmten Umständen gebilligt werden konnte.
    Im Moment des Verwandelns löste sich die Seele aus dem Menschen, und ein Selkie, der die Stimme des Meeres benutzte, konnte sich einen Teil dieser Seele einverleiben. Fortan vermochte sein Opfer nicht mehr ohne seinen Willen zu leben, zu atmen oder zu sterben. Es war nie vollkommen, sehnte sich auf ewig nach dem Seelenteil, der ihm gestohlen worden war, und war jenem ausgeliefert, der es besaß. Manch verliebter Selkie hatte in einem Akt der Verzweiflung oder der Grausamkeit versucht, einen Menschen zu seinesgleichen zu machen. Die meisten waren gestorben, nur wenige hatten den Akt überlebt. Und von diesen Wenigen waren zwei dem Unglück verfallen, das Begehren eines gewissenlosen Selkies geweckt zu haben.
    Einem Selkie wie Raer.
    Ich schloss die Augen und sandte meinen stummen Ruf hinaus. Unbarmherzig griff die Schwäche nach mir. Die ganze Nacht lang war ich durch das Meer geirrt, halb wahnsinnig vor Verlangen, hatte mich an einem einsamen Strand herumgerollt wie eine Seegurke im Sturm, in meiner Fantasie mit Mari herrliche Dinge angestellt und mich wieder und wieder mit ihr gepaart, bis ich vor Rolligkeit kurz davor gewesen war, den nächstbesten Tanghaufen zu beglücken. Der Rausch rächte sich, kaum dass die Sonne aufging, Raers Schlag tat sein Übriges dazu.
    Obwohl meine Sinne in Aufruhr waren, verlangte mein Körper sein Recht. Er wollte schlafen. Einfach nur schlafen.
    Doch jeder Augenblick, der verging, brachte Raer näher zu Mari.
    Es währte lange, bis mich eine Antwort auf meinen Ruf erreichte.
    Viel zu lange.
    Die Wale brachen ihre Jagd ab und kamen zu mir, doch sie waren weit entfernt. Höhnisch glänzte die schnell aufsteigende Sonne auf den Wellen.
    Wie ich ihre Wärme verabscheute. Fluchend stürzte ich mich in das Wasser und schwamm, so schnell es mein geschwächter Menschenkörper zuließ, den Orcas entgegen. Ohne das Fell würde meine ohnehin klägliche Kraft schnell schwinden. Ich musste vorsichtig sein. Jede Anstrengung saugte Energie aus meinen Gliedern, die ich nicht ersetzen konnte.
    Aber langsam zu schwimmen, war unmöglich. Dass Raer Mari heute Morgen nicht furchtbare Dinge angetan hatte, gebeutelt vom Rausch, grenzte an ein Wunder. Er wollte sie mir zuerst entreißen, daran musste es liegen. Er wollte, dass sie ganz zu ihm gehörte, ehe er sie sich nahm. In jeder Hinsicht. Zuallererst aber wollte er mir wehtun. Lag es vielleicht gar in seiner Absicht, Maris Herz zu gewinnen und mich daraus zu löschen, indem er ihren Geist vernebelte und in die Irre führte?
    Nein, Raer war Zuneigung gleichgültig. Was er tat, tat er aus reiner Lust an der Grausamkeit. Oder aus Freude am Spiel.
    Ich versuchte, dem Menschenmädchen eine telepathische Warnung zu schicken. Wir hatten diese Form der Kommunikation schon oft ausprobiert, leider ohne Erfolg. Vielleicht war meine Stimme diesmal laut genug, ihren vom Land beherrschten Geist zu erreichen. Verzweiflung machte vieles möglich.
    Versteck dich. Gehe ins Haus und bleibe bei deinem Vater. Nehmt euch ein Gewehr. Raer ist auf dem Weg zu dir, und wenn er dich erwischt, wird er dich töten. Denke daran, dass er deine Gefühle beeinflussen kann. Wenn er zu dir spricht, höre nicht zu.
    Keine Antwort erreichte mich. Wieder kochte die Wut in mir auf. Warum verstanden die Menschen die Sprache des Meeres nicht mehr? Jede Sprotte, jede Garnele hatte meine Botschaft empfangen, doch Mari, der sie galt, blieb

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