Sturmherz
Ich spürte einen kurzen, sengenden Schmerz, dann das warme Kitzeln fließenden Blutes.
„Ruf ihn, Mari. Ruf ihn so laut du kannst. Ich kann es kaum erwarten,, deinen Liebsten willkommen zu heißen.“
Kapitel 12
Wie ich daran scheiterte, nichts zu fühlen
„Der Wind singt keinen Namen mehr,
sein Lied ist traurig, leise, leer.
Ich gehe zum Felsen hin und weine.
Weine um meine verlorene Welt.
Willst Du mich noch immer fragen,
warum die Möwen so laut klagen?“
Autor unbekannt
~ Louan ~
Z urück auf der Insel. Nicht meiner Insel, denn dorthin würde die Kolonne aus Kuttern zuerst fahren. Skara Brae musste für immer aus meinem Leben verschwinden.
Eine weitere Heimat, die verloren war. Vielleicht war es mein Schicksal, zum Wanderer zu werden.
Ich durfte keine Gefühle zulassen. Ich wollte es nicht. Ein Panzer aus Kälte umgab mein Herz, Leere füllte meine Seele. Wie erholsam. Es war das einzig wahre Refugium für unsereins. Ein instinktgesteuertes Leben. Kaum mehr als eine Existenz, beschränkt auf das Nötigste. Jagen, töten, fressen, schlafen.
Diese Idioten fuhren Gewehre schwingend und Bier trinkend über das Meer, um mich zu töten. Sie glaubten, ich fräße Menschen.
Nach wie vor war es eine meerestief dumme Spezies.
Sei es drum.
Ein letztes Mal noch wollte ich die menschliche Gestalt fühlen. Es lag in meiner Entscheidung, sie für immer hinter mir zu lassen. Mein Wille konnte dem Tier den Sieg bringen. Für den Rest meines Daseins. Alles, was ich tun musste, bestand darin, mich eine Weile nicht zu verwandeln. Solange, bis das Tier meinen Körper dominierte und nichts mehr neben sich duldete. Es würde nur wenige Tage dauern, im schlimmsten Fall einen Mond lang. Viele von uns hatten diesen Schritt gewagt, weil Gefühle, die den menschlichen Geist wie Giftstacheln quälten, sie in Seehundgestalt nur durch einen Nebel erreichten.
Eine Rückkehr war unmöglich. Dieser Gedanke war das Beste an der ganzen Sache. Ebenso wenig wie eine Motte in den Kokon schlüpfen konnte, um in ihren Raupenzustand zurückzukehren, würde ich wieder diese schmerzhafte, schwächliche Gestalt annehmen können. Wozu auch?
Verschwinde aus meinem Leben …
Ich verwehrte mir jeden Gedanken an Mari. Ich versuchte, jede Erinnerung an die letzten Wochen zu löschen. Die Mauer, die ich um meine Gefühle errichtete, würde endgültig sein. Es gab nur noch eines, das ich erledigen musste. Dann konnte ich endlich Frieden finden, irgendwo in der Ferne. Ich wusste jetzt, wohin ich schwimmen musste, wollte ich das tintenblaue, warme Meer erreichen. Nordfrankreich, Bretagne, Spanien, Gibraltar.
Das war weit genug weg, um ein ganzes Leben hinter sich zu lassen.
„Erkennst du es jetzt?“ Raers Stimme ließ meinen schwelenden Zorn auflodern. Ich genoss ihn in dem Wissen, bald für immer davon befreit zu sein. In Menschengestalt stand er vor mir, sein Fell lag auf einem nahen Felsen direkt neben meinem.
„Dann kommt diese Erkenntnis zu spät, kleiner Bruder.“
Ich reagierte, ohne nachzudenken. Mit einem Wutschrei stürzte ich mich auf Raer, riss ihm mit meinen Nägeln die Haut auf, brachte ihn zu Fall und schlug ihm meine Faust ins Gesicht. Wieder und wieder. Mit ihm löschte ich die erste Gefahr aus. Ruth und Aaron würde ich mich zeigen, sie weglocken und ihnen die Jagd geben, die sie wollten. So viele Schiffe hatte ich zerschellen lassen. Eines mehr machte keinen Unterschied mehr.
Jäger und Gejagte. Töten oder getötet werden.
Das ewig gleiche Spiel.
Der berauschende Geschmack der Raserei brachte mich um den Rest meines Verstandes. Blut besudelte mich, lag kupfersüß auf meiner Zunge. Ich schlug und biss, rollte mich mit Raer am Boden herum und trank jeden seiner Schmerzenslaute mit grimmiger Freude.
Als mich etwas Hartes am Hinterkopf traf, spürte ich keinen Schmerz. Die Welt kippte zur Seite. Sand knirschte zwischen meinen Zähnen. Raers zerschlagenes Gesicht bedeckte plötzlich mein Sichtfeld. Blutstropfen fielen auf mich herab wie ein träger, widerwärtiger Regen.
„Lebe damit, dass sie mir gehören wird“, fauchte er. „Oh ja, ich nehme sie mir. Sie wird mein sein, als Tier wie als Mensch. Falls sie es überlebt. Was meinst du, kleiner Bruder? Wie groß ist die Chance, dass dein kleines Spielzeug die Verwandlung übersteht?“
„Nein! Das darfst du nicht.“
Ich griff nach Raer, doch er war schnell wie ein Otter. Seine Verletzungen schienen ihm keiner Beachtung wert. Blutüberströmt, ein siegessicheres
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