Sturmherz
stieß sie wie einen Sack beiseite und erhob sich. „Danke für deine Hilfe. Akzeptier es und halt die Klappe, sonst kann dein Vater einpacken.“
Doch sie dachte nicht daran, zu gehorchen. Flink wie eine Sprotte sprang Mari auf, schnappte sich das Messer und verpasste Ruth einen Faustschlag direkt ins Gesicht, dass es nur so krachte.
Mit zwei Sprüngen war sie bei mir, zog den Pfeil aus meiner Schulter und zerschnitt meine Fesseln. Um ihre Handgelenke baumelten noch die Reste des Seils, das sie gefangen gehalten hatte.
„Louan, es tut mir so leid. Es tut mir so …“
„Ich weiß“, flüsterte ich. „Alles wird gut.“
Mari kreischte, als ich sie kurzerhand packte und über die Reling warf. Die Wale warteten bereits, würden sie zurück an Land tragen und dafür sorgen, dass ihr nichts geschah. Wenigstens nicht, solange sie im Wasser war. Ich fuhr gerade rechtzeitig herum, um einem weiteren Geschoss auszuweichen. Aaron keuchte auf, als ich auf ihn zustürzte, das Gewehr aus seinen Händen riss und es in Richtung Ruth schleuderte, die gerade ihre Benommenheit abzuschütteln begann. Am Kopf getroffen, sackte sie ein zweites Mal in sich zusammen. Mein Anflug von Kraft war flüchtig. Es war das letzte, verzweifelte Aufbäumen meines Willens. Das betäubende Gift, das durch meine Adern jagte, machte meinen Körper schwerer und schwerer.
Wenn ich jetzt nicht schaffte, dann niemals wieder.
Ich schwankte auf die Reling zu, bekam sie zu packen und wollte mich darüberziehen, doch ehe mir das gelang, gaben die Beine unter mir nach. Kraftlos rutschten meine Finger an der Eisenstange ab. Ich sah Aarons Hände nach mir greifen, wich ihnen aus und schaffte es irgendwie, ihm mit einem Fußtritt die Beine unter dem Körper wegzuschlagen. Polternd ging er zu Boden. Ich stürzte mich auf ihn und versuchte einen Schlag gegen den Kopf zu landen, doch so plump Aaron gerade reagiert hatte, so wendig war er plötzlich unter mir. Oder erschien es mir nur so, weil mein Körper zunehmend tauber wurde? In wilden Drehungen rollten wir über die Planken. Mein Griff wurde immer schwächer, die Finger verwandelten sich in glibberige Quallen. Im letzten Moment fing ich Aarons Faust ab, die gegen meinen Kopf gezielt hatte, erwiderte den Schlag und traf ihn an der Schläfe. Ein Keuchen entkam seiner Kehle, doch er erschlaffte nicht wie erhofft.
Mir wurde schwarz vor Augen. Ein Knie rammte sich in meinen Bauch, schleuderte mich herum und nahm mir den Atem. Nach Luft ringend krümmte ich mich zusammen.
„Schnell“, kreischte Ruth. Etwas landete mit einem dumpfen Geräusch neben mir. „Mach schon.“
Plötzlich war Aaron erneut über mir. Ein zweites Mal fesselte er meine Handgelenke, und ein zweites Mal spürte ich den Stich, diesmal am Oberarm.
Die Schwärze kam so schnell wie eine Springflut. Kein Gedanke erreichte mich mehr. Der Kutter, der Himmel und die Wellen verschwanden im finsteren Nichts.
~ Mari ~
Lügen! Alles Lügen! Wie hatte ich ihm nur ein einziges Wort glauben können? Raers verschlagener Blick bohrte sich in meine Erinnerung, als ich mit letzter Kraft an den Strand kroch. Nicht nur mein Körper bestand aus Blei. Jeder Gedanke war schwer, so unendlich schwer.
Ich stürzte, drehte mich auf den Rücken und wollte schreien. Vor Wut, vor Selbsthass und Verzweiflung. Doch nur ein Wimmern kam über meine Lippen. Salzwasser brannte in meinen Augen und auf jedem Zentimeter Haut. Ich musste zu Dad! Sofort! Wir mussten herausfinden, wo Aaron und Ruth wohnten. Wir mussten erfahren, wohin sie Louan brachten.
Mein Gott, all das war nur geschehen, weil ich mich blindlings in Lügen gestürzt hatte. Wie hatte ich nur so dumm sein können?
Mari, wenn du das überlebst, wirst du für den Rest des Lebens ihm gehören. Er wird deine Seele nehmen und deinen Willen kontrollieren. Deswegen erzählte er dir Lügen, um uns auseinanderzubringen.
Die Erinnerung an seine Stimme war pure Folter.
Er hatte für mich gekämpft und sich für mich geopfert. Und was war seine letzte Erinnerung an mich?
Verschwinde aus meinem Leben.
Nein, ich hatte ihm noch sagen können, dass es mir leid tat. Und er hatte mein Flehen angenommen. Er wusste, dass ich ihn liebte. Nach wie vor und unverändert. Dieses Wissen machte es fast noch schlimmer. Sie würden ihn niemals wieder gehen lassen. Nicht, solange er atmete, und auch nicht nach seinem Tod. Der Gedanke, was sie ihm antun würden, trieb mich auf die Füße. Dad würde einen Weg wissen. Nur er
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