Sturmherz
konnte mir helfen, Louan zu finden.
Stolpernd arbeitete ich mich vorwärts, einen Schritt nach dem anderen. Ich fühlte mich so schwach. Nicht einmal mein Zorn verlieh mir die Kraft, schneller voranzukommen. Verfluchter Körper.
Ich stürzte, spie einen derben Fluch hervor, kroch weiter und stemmte mich wieder auf die Füße. Die Klippen rückten näher. Wie sollte ich den steilen Weg hinaufkommen? Egal. Es war überflüssig, darüber nachzudenken. Ich musste dort hinauf. Ganz gleich, wie.
Jede Sekunde des Kampfes spielte sich wie ein Film vor meinen inneren Augen ab. Wieder und wieder. Louan, der auf einem Orca zu uns kam. Aaron, der ihn hinaufzog. Schmerzverzerrte Gesichter, Schläge, der Betäubungspfeil in seiner Schulter. Ruths Messer.
Unser letzter Blick, bevor er aus meinem Blickfeld verschwand.
Ausgerechnet in dem Moment, da Aaron über ihm kauerte.
Die Chance, dass er es noch geschafft hatte, zu fliehen, war kaum existent. Und doch klammerte ich mich daran.
Vielleicht, ja vielleicht.
Tränen flossen über mein Gesicht. Ich wischte sie nicht fort. Sie brannten bitter wie das Meerwasser. Meine Zähne schlugen so fest aufeinander, dass ich fürchtete, sie könnten zersplittern.
Mir war kalt. So furchtbar kalt.
„Mari!“
Ein lauter Ruf ließ mich herumfahren. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Sand. Winzige Körnchen schrammten über meine wunde Haut. Ich blinzelte, sah jedoch nur einen Schemen. Blass, nackt, mit zwei Fellen in den Armen. Vor den dunklen Wolken schien er zu leuchten wie eine Geistererscheinung.
Louan !, schoss es mir irrsinnigerweise durch den Kopf. Doch dann nahm ich die hellen Haare wahr. Den Gang, die Bewegungen. Nichts passte auf den Selkie, den ich liebte.
Hätte ich Angst empfinden sollen? Vielleicht. Doch wenn sie existierte, wurde sie von Wut überlagert. Einer Wut, die heißer brannte als alles, was ich je empfunden hatte. Vernünftige Gedanken erreichten mich nicht mehr. Ich sah mir selbst dabei zu, wie ich auf Raer zustürzte. Ich sah, wie ich mich auf ihn warf und meine Fäuste auf ihn niedertrommeln ließ. Ich schrie und fluchte, trat, kratzte und biss, bis mir die Sinne schwanden und alles in wilder Verzweiflung zerschmolz.
Was tat ich nur? Ich hatte keine Chance gegen ihn.
Lauf!, schrie mein Verstand. Lauf, verdammt!
Doch ich sah nur das Wirbeln meiner Arme, die wieder und wieder auf ihn eindroschen. Die Momente, in denen er meine Schläge ertrug, troffen vor Spott. Sein Grinsen vor Augen, begann ich zu toben. Raserei verlieh mir ungeahnte Kräfte. Ich wollte ihm wehtun. Ich wollte Rache.
„Deine Schuld!“, schrie ich. „Es ist alles deine Schuld.“
„Es ist die Schuld von niemandem.“ Er zog meine Finger aus seinem Haar, obwohl dabei ganze Büschel ausrissen. Der Schmerz schien Raer gleichgültig zu sein. Plötzlich hielt er mich im Nacken fest wie einen Hasen. Ein heftiges Schütteln, und die Welt stellte sich auf den Kopf.
Ich fiel zu Boden. Nein, er legte mich auf den Sand. Sein Blick funkelte wie der eines ausgehungerten Raubtieres. Er sah sich kurz vor dem Ziel. Er kannte seine Kraft und meine Schwäche.
„Siehst du das hier?“ Raer fasste sein Haar zusammen, nahm es beiseite und zeigte mir seinen Nacken. Eine aufgewölbte Narbe zog sich darüber, als hätte jemand versucht, ihm den Kopf abzuschneiden. „Ihr habt mir das angetan. Damals tötete mich der Keulenschlag nicht. Ich war nur kurz benommen. Das hat den Jäger aber nicht gestört. Er drückte mir sein Knie in den Rücken, hielt meinen Kopf fest und zog mir das Messer über den Nacken. Er wollte mir bei lebendigem Leib das Fell abziehen, wie sie es bei vielen anderen Seehunden schon getan hatten. Aber das Blut machte mich glitschig. Ich entkam seinem Griff, und ich floh. Alle Narben sind verschwunden, nur diese eine nicht. Sie erinnert mich jeden Tag an die Wahrheit. Daran, dass man euch nicht trauen kann. Daran, dass es unser natürliches Recht ist, mit euch zu tun, was immer wir wollen. Louan begriff das nicht. Wobei ich davon überzeugt bin, dass er in seinen letzten Lebenstagen erkennen wird, wie grausam Menschen sein können. Ich spüre deine Hoffnungen, aber ich muss dich enttäuschen. Er konnte nicht entkommen. Sobald es dunkel wird, werden sie ihn in ihren Wagen laden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.“
Raer schwieg, strich mir mit höhnischer Sanftheit über das Haar und begann, mich auszuziehen.
„Nein!“ Ich kreischte und zappelte aus Leibeskräften.
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