Sturmherz
„Lass mich los. Lass mich verdammt noch mal los!“
Ein Schlag gegen meine Schläfe. Meine Sinne schwanden. Die Hose landete im Wasser, dann das Hemd, die Schuhe und die Unterwäsche. Der Wind pfiff über meine nackte Haut. Doch als ich entblößt vor ihm lag, gelähmt vor Entsetzen, tat Raer nicht das, was ich erwartete. Er griff nach etwas, das neben ihm lag, und plötzlich streifte er Louans Seehundhaut über meinen Körper.
Weicher Samt, fleckenlos und quecksilbern. Seidige Wirbel, die ich mit meinen Fingern nachgefahren war. Löcher, aus denen mich seine sanften Augen angeblickt hatten.
Ich rammte Raer mein Knie in den Bauch, rollte mich herum und rannte. Etwas steuerte meinen Körper, hielt ihn von allen Zweifeln und Ängsten fern. Wenn mir die Flucht nicht gelang, war Louan verloren. Niemand außer mir wusste, was ihm geschehen war.
Niemand, bis auf Raer.
Ich erreichte den Weg, der zu den Klippen hinaufführte. Keine hundert Meter mehr, und ich wäre bei unserem Haus. Dad musste mich längst vermissen. Er wartete dort oben auf mich und machte sich Sorgen. Ich musste es schaffen! Ich musste, musste, musste!
Mein Körper war leicht wie eine Feder. Ich spürte nichts mehr. Weder Kälte noch Erschöpfung. Das Gesicht meines Vaters schwebte vor mir.
„Wildes, kleines Ding.“ Raer packte mich am Arm und schleuderte mich herum. Schmerzen durchzuckten meine Nervenbahnen, als ich zu Boden ging. „Du wirst eine wunderbare Gefährtin sein. Uns wird es nie langweilig werden.“
Wie ein erlegtes Tier warf er mich über seine Schulter und schleppte mich zum Wasser herunter. In der Ferne sah ich zwei Fischkutter, die auf uns zuhielten. Hatten sie uns mit ihren Ferngläsern entdeckt?
All mein Schreien und Strampeln nützte mir nichts. Durch den Taumel meiner Verzweiflung hörte ich ihn lachen. Es erinnerte an Ruths Lachen. Dieser siegessichere Triumph. Diese Befriedigung darüber, endlich sein Ziel erreicht zu haben.
Mir wurde übel.
Fast hätte ich mich übergeben, als Raer mich wie einen Sack in den Sand niederwarf.
Wellenschaum berührte meine Füße. Selbst wenn die Fischer uns gesehen hatten, würden sie niemals rechtzeitig hier sein.
Louan! Dad! Ich durfte sie nicht alleinlassen. Ohne mich würden es beide nicht schaffen.
Die Zähne bleckend, packte Raer mich an den Schultern, wuchtete mich herum und drückte meinen Kopf unter Wasser.
Ich schlug und zappelte, umklammerte seine Handgelenke, stieß gegen seine Schienbeine. Es war, als kämpfte ich gegen einen Felsen. Meine Lungen brannten. Schrien nach Luft. War das der Weg, mich zu verwandeln? Musste ich zuerst sterben?
Durch die schäumende Oberfläche sah ich sein Gesicht. Das letzte Bild, das ich als Mensch sah. Oder das letzte Bild überhaupt.
Meine linke Hand umklammerte Raers Schulter, mit der Rechten tastete ich über den Grund. Da! Ein Stein! Nicht groß, aber scharf. Abrupt riss ich meinen Arm hoch und drosch ihm den Stein gegen die Schläfe. Er schrie auf, Blut spritzte.
Endlich war ich frei.
Instinkte übernahmen die Kontrolle, ließen mich nach beiden Fellen greifen und trieben mich ins Wasser. Warum ins Wasser?
Ich tauchte, tiefer und tiefer, presste die Pelze an mich und …
Ein wilder Schmerz löschte jeden Gedanken aus, reduzierte mein Sein auf glühende Qual. Ein Schrei erklang von fern. Wütend und hasserfüllt. Raers Schrei?
Dunkelheit umfing mich. Zerfetzt von dem Gefühl platzender Haut. Dann ein warmes Gefühl, sprudelndem Blut ähnelnd. Überall an meinem Körper. Mein Herz setzte aus. Ich spürte es, wie es kalt und still in meiner Brust ruhte.
Das war das Ende. Ein seltsames Gefühl. Beinahe befreiend.
Ich sank auf den Grund nieder. Sand, kleine Steine, Seegras, Gezeitenrillen. Über mir trieben Wolken hinter einem Spiegel aus Wellen dahin.
Endlich war ich frei.
Ich glitt in endlose Tiefe hinab. Schwerelos wie ein Fisch im Wasser, wie ein Vogel am Himmel. Etwas streifte meinen Körper. Finger? Sanfte Hände? Nein, es waren die Blätter des Tangs, der sich in der Strömung wiegte. Leicht wie ein Geist schlängelte ich mich durch die Stängel hindurch. Säulen aus Licht tanzten durch den Wasserwald. Ich sah, wie mein Körper sie reflektierte. Quecksilberglänzend. Er war so wunderschön.
Bitte , flehte ich den Traum an. Höre nicht auf.
Ein sinnloser Wunsch. Denn nach und nach erreichte mich das Wissen, dass ich nicht träumte. Es kam schleichend. Mit kalten, lautlosen Schritten, die sich meinem Bewusstsein
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