Sturmherz
ich zu dem kleinen, finsteren Eingang, stieg vier rutschige Stufen hinab, packte den Knauf und drehte ihn. Die Tür schwang mit leisem Quietschen auf.
Erleichterung wollte sich nicht bemerkbar machen. Wenn man mir so unbedacht Zugang gewährte, erwartete man mich möglicherweise. Wussten Ruth und Aaron, dass ich kam, um Louan zu befreien? Vielleicht hatte er meine Nähe gespürt und mich im Delirium verraten. Oder man hatte ihm irgendein Wahrheitsserum verabreicht.
Lautlos schlich ich durch einen muffig riechenden Raum, der ursprünglich wohl als Waschküche gedient hatte. Ich sah ein steinernes Becken, altmodische Wasserhähne und etwas, das wie ein riesiger Kessel zum Kochen von Wäsche aussah. Auf aufgespannten Leinen hing diverse Kleidung. Hemden, Hosen, Socken, Unterwäsche. Ganz rechts baumelte ein Kissenbezug, von dem mir Sharukh Khan entgegengrinste.
Psychedelisch.
Schritt für Schritt schlich ich weiter, auf jedes winzige Geräusch achtend. Waren das Herzschläge, die ich hörte? Weit über mit? Spinnen brachten mit sirrenden, ruckartigen Bewegungen ihre Netze zum Vibrieren, um etwaige Beute zum verräterischen Zappeln zu animieren. Mäuse huschten hinter steinernen Wänden durch ihre Gänge. Zweige schabten irgendwo über die Wand des Hauses. Etwas schepperte, als wäre eine Schüssel zu Boden geworfen worden. Ein leiser Fluch erklang.
Das Trippeln größerer Füße. Vielleicht eine Ratte. Zischeln und Glucksen aus verschiedenen Rohren. Der Geruch nach eingekochten Erdbeeren und Pflaumen. Ich lief durch einen langen, dunklen Gang, der von einem sonderbaren, grünlichen Licht erfüllt zu sein schien. Fast erschien es mir, als blicke ich durch ein Nachtsichtgerät. Waren das meine verbesserten Augen oder erkannte ich nur nicht die Quelle des Schimmers?
Links von mir tauchte eine weiße Tür auf. Ich drückte die Klinke herunter, öffnete sie und fand mich einer ebenfalls weiß gefliesten Treppe gegenüber. Ruths Stimme wehte zu mir herunter.
„Ja genau, die erste Präsentation um 8.00 Uhr … du solltest kommen, unsere Entdeckung wird die Geschicke dieser Welt verändern … ja, auf der Jahreskonferenz für Genetik und Molekularbiologie in London … glaub mir oder nicht … ich weiß … verdammt, komm einfach, Dad.“
Ihre Stimme senkte sich, doch sie redete noch immer mit ihrem Vater. Ein kaltes, eishelles Wesen wie Ruth redete mit ihrem Vater.
Seltsam. Aber warum? Hatte ich etwa gedacht, sie sei in einem Reagenzglas entstanden?
Jahreskonferenz für Genetik und Molekularbiologie in London. Ich hatte in der Zeitung davon gelesen. Es war die wohl wichtigste Veranstaltung in der Welt der Genforschung. Hier wurden ausschließlich bedeutende bis spektakuläre Entdeckungen präsentiert.
Entdeckungen wie die bewiesene Existenz eines Selkies.
Ich huschte die Treppe hinauf. Oben vertiefte das Haus den ersten, vom Äußeren und dem Keller geweckten Eindruck. Die Decke war holzvertäfelt, die Wände bis zur Hälfte, darunter zeigten sich Feldsteine. Eine Garderobe aus rustikaler Eiche harmonierte mit einem dunkelroten Teppich. Bunte, schwarz gerahmte Bilder hingen hier und da an den Wänden, Darstellungen indischer Götter. Der elefantenköpfige Ganesha, der sanft lächelnde Shiva, die grausame Kali. Letzterer warf ich einen zweiten Blick zu. Sie stand ebenso für die Schöpfung wie für die Zerstörung. Leben und Tod. Mutter und Mörderin.
Das Blut der Verwandlung klebte noch immer auf meinem Körper. Salzwasser tropfte aus meinen Haaren und aus den Seehundfellen. Die Welt verbarg weitaus mehr Geheimnisse, als der Mensch ahnte. Zahllose Existenzen hinter der Existenz, die wir für das Maß aller Dinge hielten. Und ich war zum Teil des Mysteriums geworden, das letztlich nichts anderes war als Natur.
Natur, die der Mensch noch nicht begriff. Und die er niemals begreifen durfte, weil er nicht in der Lage war, in Harmonie mit ihr zu leben.
Durch einen Türspalt sah ich in ein altmodisches Wohnzimmer mit dunkelgrünen Sesseln, einem Röhrenfernseher und Möbeln in Eiche rustikal. In einem der Sessel saß Ruth, hatte die Beine übereinandergeschlagen und telefonierte. Leise, fast verstohlen. Ihr weißblondes Haar schimmerte unwirklich im Licht eines Deckenfluters.
Von irgendwoher erklang das Geräusch von Fingern, die auf einer Tastatur einhackten. Ich nahm den Geruch von Desinfektionsmitteln wahr. Vermischt mit jenen Aromen, die Krankenhäuser erfüllten und von denen man nie wissen wollte, aus welchen
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