Sturmherz
hatte, währte meine Erleichterung nur kurz. Ich sah kein Erkennen in seinen Augen. Nicht ein Funken von Vertrautheit und Liebe.
Stattdessen blickte ich in die Augen eines zornigen, mörderischen Tieres. Mein Blut gefror. Als Louans Blick an sich herabglitt und die gelösten Fesseln sah, zögerte er keine Sekunde.
Die vorgetäuschte Schwäche fiel von ihm ab. Mit gefährlicher Anmut sprang er auf, ging in eine geduckte Haltung und fixierte den ahnungslosen Aaron. Er würde ihn töten. Keinen Augenblick lang zweifelte ich daran.
„Louan!“ Ich sprach es laut genug aus, dass Aaron es hören konnte. Als der Wissenschaftler herumfuhr, weiteten sich seine Augen vor Panik.
„Nicht!“ In einer Geste verzweifelten Flehens streckte er die Arme vor. „Ich wollte das alles nicht. Das musst du mir glauben. Ich tat nur, was Ruth von mir verlangte.“
Louan wich einige Schritte zur Seite. Seine gesamte Gestalt strahlte Mordlust aus. Animalischen Zorn und eine Lust an Rache, die jenseits menschlicher Moral stand. Warum erkannte er mich nicht? Was war mit ihm geschehen? Seine Beine waren, wie ich nun sah, vollständig von Fell überzogen. Darunter spielten kräftige Muskeln, bereit, den Körper blitzschnell voranzutreiben und Aaron niederzureißen. Auf grauenvolle Weise war Louan schöner denn je. Ein Chimäre zwischen Mensch und Tier, in jenem Moment, da er in der Mitte zwischen beiden Welten balancierte, vollkommen.
„Louan.“ In meiner Stimme zitterten die Tränen, die mir in die Augen stiegen. „Erkennt du mich nicht? Ich bin es, Mari.“
Sein wilder Blick streifte mich nur kurz. Es war wie die Berührung eines fremdartigen, urtümlichen Geschöpfs, dessen Natur selbst mir fern war, obwohl auch in meinen Adern das Blut des Meeres floss. Als er sich wieder Aaron zuwandte, war keinerlei Erkenntnis in seinen Augen aufgetaucht. Er wusste nicht, wer ich war. Warum ich hier war. Aber er wusste, was Aaron ihm angetan hatte.
„Ich habe dafür gesorgt, dass sie hereinkommen konnte.“ Aarons Stimme überschlug sich schier. Er fuhr hoch und drückte sich mit dem Rücken gegen die Kante des Schreibtisches. „Ich habe die Kellertür offengelassen. Ich habe ihr den Weg geebnet. Ohne meine Hilfe hätte sie dich nie befreien können. Glaube mir, ich wollte dir nie wehtun. Ich will, dass du frei bist. Geh. Beeil dich, bevor Ruth zurückkommt.“
„Es ist wahr.“ Ich glaubte, in Louans Blick ein Zögern zu erkennen. „Er hat mir geholfen. Hier, ich habe dein Fell für dich. Ich bin jetzt wie du. Wir können gemeinsam glücklich werden.“
Er sah mich an. Lange und undurchschaubar. War da etwas wie Schmerz, das in seinen Augen lag? Erinnerte er sich wieder an mich?
„Hier.“ Ich hielt ihm Raers Fell entgegen. „Erkennst du es? Du hast mich vor ihm gewarnt. Du sagtest, er würde mich zur Verwandlung zwingen und meinen Geist kontrollieren. Es ist ihm nicht gelungen. Wir sind jetzt frei. Nimm dein Fell und komm mit mir.“
Verwirrung schien ihn zu befallen. Er wich vor Aaron und mir zurück, als hätte ihn keines meiner Worte erreicht, und als er plötzlich herumfuhr, glaubte ich, er würde verschwinden, ohne sich noch einmal zu mir umzusehen.
„Das Glück ist wahrlich auf meiner Seite.“ Ruth stand in der offenstehenden Tür, das Narkosegewehr im Anschlag. „Ein männlicher und ein weiblicher Selkie. Besser geht es nicht.“
Sie schoss, doch Louan war schneller. In schattenhafter Schnelligkeit wich er dem Pfeil aus, der stattdessen haarscharf an Aaron vorbeischoss und in der Wand neben dem Computer endete. Ein Aufschrei, ein Zappeln, und Ruth lag am Boden, festgehalten von Louans unnachgiebigen Händen. Als er sich vorbeugte, um sie zu küssen, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Was tat er da? Wie konnte er nur …
Nein! Es ging nicht darum, sie zu küssen. Ein eiskalter Hauch kroch über meine Wirbelsäule. Die Luft im Zimmer kühlte sich schlagartig ab, als ein seltsames Vibrieren sie erfüllte. Nicht hörbar, nur zu fühlen. So tief und subtil, dass meine Sinne schwanden und mir schlagartig klar wurde, was Louan tat.
Er nahm sich ihre Seele.
Aaron rührte keinen Finger. Wie eine Statue stand er neben mir, die Augen weit aufgerissen, den Mund aufgeklappt. Ich sah, dass er innerlich darum flehte, sich rühren zu können. Trotz allen Hasses, den ich so deutlich fühlte, wollte er Ruth helfen. Doch erging es ihm wie mir. Wie gelähmt angesichts des ungeheuerlichen Aktes standen wir da, in der flackernden
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