Sturmherz
Nuancen sie sich zusammensetzten.
Louan war in unmittelbarer Nähe. Ich spürte, wie sein Geist nach mir tastete. Matt und kraftlos wie ein kühler Windhauch. Mit drei Sätzen durchquerte ich den Flur und kam in eine Art kleine Übergangshalle, die ausgelegt war mit weichen, orientalischen Teppichen. Von dieser Halle aus führte eine spiralförmig gewundene Treppe in das nächste Stockwerk. Zudem gab es zwei wurmstichige Holztüren, von denen eine geschlossen und eine angelehnt war. Langsam ging ich an die offene heran, hinter der ein matter Lichtschein lag. Das Tastaturgeklapper kam zweifellos von dort. Ich erkannte ein Fenster mit langen, in einem Luftzug wehenden Vorhängen. Das Gestell eines Bettes, meinem nicht unähnlich, um das ein Seil geschlungen war. Mit angehaltenem Atem beugte ich mich weiter vor.
Im letzten Augenblick gelang es mir, ein erschrockenes Aufstöhnen hinunterzuwürgen. Dort, keine fünf Schritte vor mir, lag Louan. Halb bedeckt von einem weißen Laken, an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Seine Augen waren geschlossen, sein Kopf zur Seite gesackt. Flackerndes Bildschirmlicht tanzte über seinen reglosen Körper, der seltsam verändert aussah. Die silbernen Flecken, die sich über Brust und Arme zogen, sahen beinahe aus wie Fell.
Hektisch sah ich mich um. Gab es hier irgendetwas, das ich notfalls als Waffe verwenden konnte? Hinter mir im Flur erhob sich Ruths Stimme wieder. Offenbar geriet sie mit ihrem Vater in Streit.
In einer Terracotta-Vase befand sich neben getrockneten, von Spinnweben überzogenen Palmwedeln der Ast einer Korkenzieherweide. Zumindest am unteren Ende dick genug, um im Ernstfall zum Schlagstock umfunktioniert zu werden. Leise zog ich ihn aus seinem Behältnis. Was, wenn Louan bereits tot war? Oder wenn es zu spät war, um die Verwandlung herbeizuführen?
Während ich zurück zur Tür schlich, kreisten zahllose Gedanken in meinem Kopf. Wenn es mir gelang, ihn loszubinden, mussten wir es bis zum Strand schaffen. Aber Louan schien am Ende seiner Kräfte zu sein. War ich in meiner neuen Daseinsform stark genug, ihn zu tragen? Und was geschah mit all den Daten, die sie zweifellos bereits von ihm gesammelt hatten? Ihn zu befreien und alle Proben hierzulassen, war wie die Herausforderung zu einer Katastrophe. Man würde uns jagen bis ans Ende der Welt.
Wie ferngesteuert schob ich die Tür auf. Sie quietschte nicht, sondern schwang lautlos auf. Im kalten Bildschirmlicht vertiefte sich die Grausamkeit der Szenerie. Aaron saß mit dem Rücken zu mir und ließ soeben vom Computer ab, um mit seinem Hocker zum Mikroskop zu rollen. Er blickte hindurch, nahm einen Block und einen Stift und begann, hektisch irgendeine Skizze anzufertigen. Die beiden Diagramme auf dem Bildschirm sagten mir nichts, außer, dass sie laut Überschrift einen Vergleich von normalsterblichen Werten zu denen des Selkies zeigten.
Jeden Augenblick konnte er sich umdrehen und mich entdecken. Aaron war kein schlechter Mensch, das hatte ich gespürt. Aber selbst der gutherzigste Wissenschaftler konnte auf falsche Pfade geraten, wenn Ruhm und Anerkennung lockten. Ich zweifelte nicht daran, dass er uns aufhalten würde.
Vorsichtig legte ich den Ast vor dem Bett ab. Ich vermied jeden Blick auf Louan, richtete mein Augenmerk lediglich auf die Fesseln und machte daran, sie zu lösen. Die Knoten saßen nicht übermäßig fest. Jeder, der sich wie ich jahrelang auf einem Fischerboot verdingt hatte und dem selbst die kompliziertesten Knoten geläufig waren, empfand diese hier als Kinderspiel. Ich löste das Seil am Bettende, wickelte es von seinen Fußgelenken und begann, die beiden rechts und links aufzuknoten, mit denen man seine Hände festgebunden hatte. Aaron hockte in unveränderter Konzentration vor dem Mikroskop und kritzelte wie von Sinnen. Vermutlich war er derart in seiner Gedankenwelt gefangen, dass es einer Bombenexplosion bedurft hätte, um ihn in die Realität zurückzuholen.
Jetzt, da alle Fesseln gelöst waren, beugte ich mich über Louan. Der Puls an seinem Hals war schwach, aber spürbar. Flecken seidigen Fells waren überall zu erkennen. Ich berührte den größten auf seiner Brust. Es schien, als kämpfte sich das Tier mit aller Macht in die Freiheit.
„Hörst du mich?“, wisperte ich an seinem Ohr, Aaron nicht aus den Augen lassend. „Ich bin hier. Ich bringe dich hier raus. Aber das kann ich nicht ohne deine Hilfe.“
Als er den Kopf zu mir wandte, noch ehe ich den letzten Satz beendet
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