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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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und sah ihr in die Augen. Riesengroß waren sie, klar und grün wie flaches Wasser. Ich erkannte die Freude und das Staunen in ihrem Blick. Nichts Böses, keine Heimtücke. Nur eine Armlänge entfernt lag der Rucksack mit meinem Fell. Ich wollte danach greifen, wollte ihn an mich reißen und verschwinden – stattdessen stand ich da wie gelähmt.
    Sah sie einfach nur an.
    Und sie sah mich an.
    „I-i-i-ich wollte …“, begann sie zu stottern, „ich wollte es nicht stehlen. Du musst mir glauben, dass ich es nicht …“
    „Mari!“, brüllte plötzlich eine andere Stimme. „Mari!“
    Ich fuhr herum. Ihr Vater kam über die Grashügel gerannt, wedelte mit den Armen und schrie wieder und wieder ihren Namen. Das Mädchen glitt vom Felsen, drückte den Rucksack an ihre Brust und wich einen Schritt vor mir zurück. Die Botschaft war eindeutig. Ein wütendes Knurren grollte in meiner Kehle.
    „Gib es mir!“
    Ich streckte gerade die Hand nach ihr aus, als ein Schuss über die Insel hallte. Noch ehe er verhallt war, erklang ein zweiter. Maris Schrei in den Ohren warf ich mich herum und hechtete in das Wasser. Ich schwamm so schnell und tief, wie es der Menschenkörper zuließ. Die Stimmen verhallten im Rauschen des Wassers. Strömungen trieben mich hinaus in die schützende Weite meiner Heimat und verwischten meine Gedanken, ließen mich selbst ohne das Fell zum Tier werden.
    Weit draußen, wo die Insel nur als ferner Schemen zu erkennen war, wartete ich, bis der Kutter mit den drei Menschen am Horizont verschwunden war. Erst dann, als das Licht über dem Wasser bereits so rotgolden war wie Maris Haar, kehrte ich zurück zur Insel. Nirgendwo sah ich mein Fell.
    Das Mädchen hatte es mitgenommen, ungeachtet ihrer freundlichen Worte.
    Abendsonnenstrahlen brachen durch bauschige Wolkenberge. Ich fror im kalten Wind, ein erstes Zeichen der Schwäche, die ohne mein Fell mit jeder Stunde zunehmen würde, und als ich mich zitternd an einen Felsen lehnte, die Arme schützend um meinen Oberkörper geschlungen, wurde mir erst wirklich klar, dass meine größte Furcht sich erfüllt hatte.
    Ein Mensch besaß mein Fell. Und damit auch mein Schicksal.
    Mari wollte mich zwingen, ihr zu folgen. Heimtückisch, wie es die Art der Menschen war. Ihr Vater hatte mich gesehen, die Fischer auf mich geschossen. Ich musste mir den Seehundpelz zurückholen und von hier verschwinden. Für immer.
    Panik schnürte mir die Kehle zu. Ich kämpfte dagegen an, zwang mich im letzten Sonnenlicht durch das flache Wasser zu waten und Muscheln von den Felsen zu brechen. Die Furcht vor dem, was geschehen konnte, schnürte mir den Magen zu, doch ich musste Kräfte sammeln. Für das, was getan werden musste.
    Während die Dämmerung langsam im Meer versank und blaue Dunkelheit aufzog, wuchs meine Angst gemeinsam mit der Wut. Ich musste zu den Menschen, zu meinen Feinden. Noch heute Nacht.
    Es half nichts, es hinauszuzögern. Mit jedem Augenblick, den ich meinem Fell fern war, wurden meine Gedanken schleppender und mein Körper schwerer. Der Mensch konnte nicht ohne das Tier leben, und Mari – das Mädchen, dem ich einen Augenblick lang vertraut hatte – nutzte diese Schwäche für sich aus.

Kapitel 4
    Der Selkie und ich
    „Was unterscheidet Götter von Menschen?
Dass viele Wellen vor jenen wandeln,
wie ein ewiger Strom.
Uns aber hebt die Welle, verschlingt die Welle,
und wir versinken.“
Johann Wolfgang von Goethe
    ~ Mari ~
    I ch presste das Fell an mich, als könnte ich auf magische Weise mit ihm verschmelzen. Leise folgte Beethovens siebte Sinfonie ihren Strömen aus Klang, schwang sich behutsam auf und überzog meinen Körper mit Gänsehaut. Seit dem Film mit Nicholas Cage, den ich gemeinsam mit Dad im Kino gesehen hatte, malte dieses Stück apokalyptische Bilder in meinem Kopf. Ein gewaltiger Sonnensturm, der die Erde verschlang. Rotglühendes Inferno. Menschen, die sich in ihren letzten Augenblicken aneinanderschmiegten. Vereint im Angesicht des allumfassenden Endes.
    Mir war zum Weinen zumute. Ich fühlte mich ganz und gar elend. Als wir gestern zurück nach Westray gefahren waren, hatte Dad dem alten MacMuffin ein paar Lügen aufgetischt, um ihn halbwegs zu beruhigen.
    Er wollte ihr nichts tun, glaube mir. Er ist nur seltsam. Fährt gern auf die Insel und macht einen auf Naturbursche. Ja, ich kenne ihn. Sein Vater ist so eine Art Alt-Hippie. Deswegen denkt sich der Junge nichts dabei, nackt auf einsamen Inseln herumzurennen.
    MacMuffin war

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