Sturmherz
andere Welt betraten. Eine Welt, in der alles möglich war. Im Guten wie im Bösen. Vor mir stand ein Fabelwesen. Jung und uralt, unbegreiflich und unberechenbar. Mein Blick huschte über den Horizont. MacMuffin war nirgendwo auszumachen.
„Willst du einen Butterkeks?“, platzte es aus mir heraus.
Ich stöhnte innerlich. Wie bescheuert war diese Frage? Willst du einen Butterkeks? Wunderbar. Eine dämlichere Bemerkung hätte mir wohl nicht einfallen können. Die Membran aus Magie platzte dank meiner Unbeholfenheit.
„Gern“, sagte er. „Und bitte, Mari, beruhige dich. Dein Herz bleibt gleich stehen, wenn du es nicht zügelst.“
„Kannst du es etwa hören?“
„Ja.“ Er tippte grinsend auf sein Ohr. „Raubtierinstinkte.“
„Versprichst du mir, nicht meine Seele zu rauben, mich nicht zu ertränken und auch davon abzusehen, mich in den Wahnsinn zu treiben?“
Er zog eine Augenbraue hoch. War es Verwirrung, Spott oder gut getarnte Heimtücke, die in seinem Blick lag? Ich wusste es nicht.
„Keine Angst, Mari“, sagte er schließlich. „Es ist ewig her, dass ich eine Seele geraubt habe. Sie schmecken mir nicht besonders.“
Ich zog eine Grimasse und griff in meinen Rucksack. Nur zwei Kekse waren übrig geblieben, die restlichen lagen paniert im Sand. Ehe ich Louan das Gebäck reichte, bedachte ich ihn mit einer Gouvernantenmiene. Humor war eine wunderbare Ablenkung.
„Ist das artgerechte Nahrung für dich?“
„Finden wir’s raus.“ Das Funkeln in seinen Augen ließ mich an Eissplitter denken, eingeschlossen in Onyx. So schnell, dass ich seiner Bewegung nicht folgen konnte, schnappte er sich den Keks. Seine Miene sprach Bände, als er darauf herumkaute. Dads Backkünste überzeugten selbst magische Wesen.
„Das letzte Mal habe ich sowas gegessen“, murmelte Louan mit vollem Mund, „als ihr Musik durch Grammophone gehört habt.“
„Irre.“ Ich wollte mich wieder auf den Felsen hinaufziehen, doch er griff nach meinem Arm und schüttelte – noch immer begeisternd kauernd – den Kopf. Durch den Stoff meines Pullovers spürte ich, wie warm seine Haut geworden war.
„Komm mit.“ Er deutete auf das Watt, in dem sich Licht und Schatten jagten. „Ich will dir etwas zeigen.“
Oha. Ein Selkie lud mich also ein, seine Welt kennenzulernen. Im Geiste hörte ich Dads Warnungen, doch ich wischte sie beiseite. Dieser Tag war ein Abenteuer, und was war das Leben ohne Abenteuer? Mit klopfendem Herzen zog ich meine Schuhe aus, krempelte die Jeans hoch und folgte Louan. Erst, als der Schlick durch meine Zehen glitt, sonnenwarm und geschmeidig, verlangsamte sich mein ungesunder Herzschlag. Ich liebte dieses Gefühl. Blieb ich stehen, spürte ich die Bewegungen winziger Tiere, die sich unter dem Druck meiner Füße wanden. Pure Lebendigkeit.
„Hast du uns jedes Mal beobachtet?“, fragte ich. „Ich hoffe, dass … ich meine, wir hätten nicht ständig hier aufkreuzen dürfen. Du musst mich für eine lästige Stechmücke halten.“
„Keine Angst, ich war nicht hier. Und selbst wenn ich es gewesen wäre, hätte ich dich nicht als Stechmücke empfunden.“
„Als was dann?“
„Du bist eine Seeschwalbe.“
„Wie kommst du darauf?“
„Du bist zart, schön und fragil, aber zugleich stark genug, um selbst im Orkan zu fliegen.“
„Aha.“ Während ich über diese Worte sinnierte, schweifte Louans Blick aufmerksam hin und her, als suche er etwas.
Er fand mich schön?
Mich, den dürren Rotfuchs? Das konnte nur auf einen Knick in der Optik hindeuten.
Müsste er naturgemäß nicht dralle, stromlinienförmige Körper bevorzugen? Paarten sich Selkies in menschlicher oder in tierischer Gestalt? Konnten sie mit Menschen Kinder zeugen?
Das waren drei Fragen, die ich ihm in absehbarer Zeit nicht stellen würde.
Ich wagte einen unauffälligen Blick aus dem Augenwinkel. Louans Fell enthüllte mehr als es verbarg. Mein Gott, all das hier war so unwirklich. So unfassbar aufregend. Louan war bei mir. Er redete mit mir, ging mit mir durch seine Welt und zeigte mir allein durch seine Existenz, wie wundersam das Leben war. Jeder seiner Schritte symbolisierte Zugehörigkeit zu dieser Welt. Er gehörte hierher. Er war ein Teil des Ozeans. Ein Teil des schimmerndes Watts, der Wellen und des Windes.
„Wo warst du?“, wagte ich zu fragen, ruderte jedoch gleich wieder zurück: „Wobei mich das natürlich nichts angeht.“
„Ich musste weg.“
„Warum?“
„Die Fischer sind hinter mir her. Ich habe zu
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