Sturmherz
leisen Plopp löste, und setzte ihn zurück in den Tümpel.
Schweigend gingen wir weiter. Ich wollte still sein und den Moment in mich aufsaugen, die Tatsache realisieren, dass ich hier war. Bei ihm. Im lichtschimmernden Watt. Irgendwann hockte ich mich vor einen flachen Gezeitentümpel, streckte den Arm aus und tauchte ihn in das Wasser. Mit der Spitze meines Zeigefingers berührte ich eine der weißen Anemonen. Ihre zarten Tentakel saugten sich an mir fest, anscheinend in der Hoffnung, ich sei essbar.
„Sei vorsichtig.“ Louans Hand legte sich über meine. Ich hielt den Atem an, mein Herz geriet ins Stolpern. Doch seine Stimme, die sanft auf mich einredete, kühlte mein kochendes Blut mit ihrem gespenstischen Zauber. „Wenn du deinen Finger zu schnell zurückziehst, reißt du ihre Tentakel ab. Dann kann sie keine Nahrung mehr aus dem Wasser filtern und muss verhungern. Mach es ganz langsam.“
Ich tat es, behutsam geleitet von Louans Hand. Mit hauchzartem Reißen löste sich die Anemone von mir, ohne einen ihrer fadendünnen Tentakel zu verlieren.
„Gut gemacht.“ Er zog sich zurück und glich den Verlust seiner Berührung mit einem Lächeln aus, dass meinen Magen flattern ließ. Mir wurde die Unbedachtheit bewusst, mit der ich mich bisher durch seine Welt bewegt hatte. Ich hatte das Meer und seine Geschöpfe immer geliebt, aber jetzt wurde mir klar, wie wenig ich wusste. Plötzlich sah ich den Gezeitentümpel mit anderen Augen. Ein unberührtes, vor Leben überquellendes Universum auf kleinstem Raum.
Durchsichtige Garnelen flitzten über die Steine. Seenelken und Anemonen in sanften Pastellfarben filterten das Wasser. Schnecken und Muscheln in allen Größen reihten sich aneinander und ein winziger, cremefarbener Wurm mit fransenartigen Auswüchsen an beiden Seiten seines Körpers schlängelte sich hektisch über ein kleines Stück Sand.
Louan deutete auf eine große Miesmuschel, die mit Hilfe feiner Fäden Dutzende kleine Artgenossen an sich gefesselt hatte.
„Wusstest du, dass man früher diese Fäden zu Kleidung versponnen hat?“ Louan hob den Ballen auf und zog ein wenig an den Muscheln, woraufhin zarte Fäden im Sonnenlicht glänzten. „Man nannte den Stoff Muschelseide. Er war so teuer, dass ihn sich nur Könige leisten konnten. Man musste Tausende dieser Tierchen sammeln, um genug Byssus für ein einziges Gewand zu ernten. Aber man nutzte andere Muscheln, nicht diese hier. Ich glaube, sie kamen aus einem wärmeren Meer im Süden. Wie nennt ihr es? Ich habe es vergessen.“
„Mittelmeer?“
„Ja. Ich würde es gerne einmal sehen. Es ist noch blauer als diese See. Blauer als Tinte. Ich habe Bilder gesehen. Von Menschen gemalt, die dort waren.“
„Dann musst du zu uns kommen und etwas tun, dass sich Fernsehgucken nennt. Um ans echte Mittelmeer zu kommen, brauchst du allerdings Geld und Papiere.“
„Fernsehgucken? Du meinst diese lauten, flimmernden Kästen, in die ihr stundenlang hineinstarrt? In der winzige Menschen und Tiere herumtanzen? Ich kenne sie von den Schiffen. Ein paar der Fischer vertreiben sich gerne die Zeit damit.“
„Genau. Aber die Menschen und Tiere darin sind nicht echt. Sie sind …“
„Spiegelbilder auf dem Wasser? Wie Erinnerungen, die wir abrufen und die andere in ihren Köpfen sehen können?“
Ich stutzte. „Ihr könnt fremde Erinnerungen in euren Köpfen sehen?“
„Ja. Ich glaube, ihr habt ein Wort für so etwas. Es ist kompliziert. Deswegen fällt es mir nicht ein.“
„Telepathie?“
„Genau. Telepathie.“
Ich stieß ein fasziniertes „Aha“ aus und dachte eine Weile darüber nach. Was bedeutete das? War ich für ihn ein Gefäß aus Glas, in das er nach Belieben hineinschauen konnte? „Kannst du Gedanken lesen?“, fragte ich vorsichtig.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Nur Gefühle und Bilder übermitteln.“
„Gut. Funktioniert es nur unter Selkies oder auch unter Tieren?“
„Ganz besonders unter Tieren.“
„Wow. Kannst du es mir zeigen? Übermittel mir was.“
Louan starrte mich konzentriert an. Einen Wimpernschlag lang verschwand das Weiß aus seinen Augen und wurde schwarz. Gerade, als dieser Anblick einen unheimlichen Schauer über meine Wirbelsäule rieseln ließ, verschwand dieser Momenteindruck.
„Funktioniert es?“, fragte er.
Enttäuscht schüttelte ich den Kopf. Es tat sich nichts.
Weder fühlte ich mich anders, noch zuckten Gefühle oder Bilder durch meinen Kopf. „Nein, tut mir leid. Wir sind für
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