Sturmherz
Gedankenübertragung wohl nicht gemacht.“
„Nicht mehr“, sagte er. „Früher konnten es einige Menschen. Als eure Köpfe noch nicht so voll waren. Wie genau funktioniert das eigentlich mit dem Fernsehgucken, wenn ihr keine Bilder übermitteln könnt?“
„Gute Frage.“ Ich war einen Moment lang versucht, es ihm genauer zu erklären, doch dazu hätte ich zu weit ausholen müssen. Ich bezweifelte, dass er mit Begriffen wie Kamera, Aufnahme, Special Effects und DVD etwas anfangen konnte. Mein technisches Verständnis reichte nicht weit. Es scheiterte bereits kläglich an dem Versuch, sinnvoll zu erklären, wie ein ganzer Film auf eine flache, glänzende Scheibe kam.
„Das ist kompliziert. Viel komplizierter als ein Grammophon. Ich kann es dir nicht erklären.“
„Ist es eine weiterentwickelte Camera Obscura?“, fragte Louan mit solch rührender Ratlosigkeit, dass er mich zum Lachen brachte. „Die Menschen, bei denen ich früher lebte, hatten so eine.“
„Das trifft es wohl am besten, ja. Was waren das eigentlich für Menschen, bei denen du warst? Wussten sie, was du bist?“
„Ja. Sie wussten es.“
Offenbar war Louan nicht bereit, mir mehr über diese Passage seines Lebens zu erzählen. Ich beschloss, es zu akzeptieren, hob eine Miesmuschel hoch, zwischen deren Schalenhälften eine gelblichbraune Schnecke klemmte, und hielt sie ihm vor die Nase. „Wusstest du, dass die Wellhornschnecke der erbittertste Feind der Miesmuschel ist? Sie wartet, bis ihr Opfer seine Schalen öffnet, dann rutscht sie dazwischen, verklemmt sich dort und frisst die arme Muschel nach und nach auf. Grausam, oder?“
Louan sah mich forschend an. Sein Blick ging mir durch Mark und Bein. „Es gibt Grausameres im Meer.“
„Zum Beispiel?“
Statt zu antworten, deutete er auf etwas. Ein frisch geschlüpfter Nagelrochen ruhte auf dem Sand. Man erkannte das gut getarnte Tierchen lediglich an seinen Umrissen.
Bohre nicht , befahl ich mir selbst. Sonst mochte er dich die längst Zeit.
Eine Spur zu hastig stand er auf, ich folgte ihm stumm. Wir waren kaum eine Stunde zusammen, es war utopisch zu denken, dass er mir bereits genug vertraute, um mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Eine Zeitlang gingen wir schweigend nebeneinander her, hin und wieder innehaltend, wenn uns etwas Interessantes ins Auge fiel. Sei es ein Krebs, ein besonders schönes Stück Treibholz oder ein Haufen leuchtend grüner Seetang, der sich mit ausgeblichenen Muscheln geschmückt hatte. Wir taten nichts, außer uns anzuschweigen, und doch hatte ich nie etwas so genossen wie diese Wanderung durch das Watt. Louan war nicht zu vergleichen mit einem gewöhnlichen Jungen. Was allein schon daran liegen mochte, dass er mit völlig anderen Vorstellungen und Werten aufgewachsen war … nein, dass er besser gesagt aus einer vollkommen anderen Welt stammte. Aber es war noch etwas Tieferes als das. Gewöhnliche Jungen in seinem Alter waren primitiv und albern, rücksichtslos und grobmotorisch. Sie rückten mir mit peinlichen Sprüchen zu Leibe und waren tagein, tagaus darum bemüht, sich mit sinnfreien Einfällen zu übertrumpfen. Louan hingegen strahlte Ruhe aus. Eine reife, unerschütterliche Stärke, die in seinem Schweigen und in seinen Bewegungen lag. In der Art, wie er sprach und wie er mit den Lebewesen seiner Welt umging. Unter dieser Noblesse spürte ich das Tier, verborgen unter einer halbtransparenten Maske, und während ich ihn ansah und seine Andersartigkeit spürte, fielen mir eine Million Fragen ein. Eine brennender als die andere.
Er hatte früh seine Familie verloren und kämpfte eine einsame Schlacht gegen den Wandel der Zeit. Bedachte man das, war es nur natürlich, dass er um Welten erwachsener war als jeder gewöhnliche Junge oder Mann. Ganz abgesehen davon, dass er Tag für Tag und Nacht für Nacht vorsichtig sein musste. Gefahren gab es viele hier draußen. Menschen, Tiere, Krankheiten, Eis und Stürme.
Aber vor allem gab es Einsamkeit.
„Ich wollte dir etwas zeigen.“ Jetzt, da wir den Rand des Watts erreicht hatten und die Brandung des zurückgewichenen Meeres vor uns lag, blieb Louan stehen und zog das Fell von seinen Hüften. Kannte er gar keine Scham? Es war schier unmöglich, meinen Blick unter Kontrolle zu halten. Umso erleichterter war ich, als er ohne zu zögern in das Wasser ging. Durch die Strömung der Gezeiten war es aufgewühlt und grau, erst in etwa fünfzig Metern Entfernung ging es in einladendes, tiefes Blau über.
Weitere Kostenlose Bücher