Sturmherz
Raer hasste Menschen. Ausnahmslos. Vielleicht ist er verrückt geworden. Oder er wurde von einem Orca gefressen, weil er vor lauter Wut und Hass nichts mehr wahrnahm.“
Mari stieß einen klagenden Laut aus. „Ich wünschte, ich wäre wie du. Könnte ich nicht so werden? Wie seid ihr entstanden? Gibt es für Menschen die Möglichkeit, ein Selkie zu werden?“
Schmerz brach in mir auf. Ich wusste die Antwort darauf, doch ich wollte nicht daran denken. Nicht heute Nacht. Stattdessen atmete ich ihren Duft ein. Sog ihre Wärme in mich auf und wünschte mir, dass diese Nacht nie endete.
Wie zufällig geschah es, dass unsere Lippen sich berührten. Mein Körper verkrampfte sich, als ihr Geschmack auf meiner Zunge explodierte. Er glühte wie das sommerliche Meeresleuchten.
Ich wollte mehr davon.
Viel mehr.
Mari seufzte, als ich sie zu küssen begann. So federleicht lag sie in meinen Armen, so süß schmeckten ihre Lippen, dass eine gewaltige Sehnsucht in meinem Körper klaffte.
Ihre Finger gruben sich in mein Haar, ihr Bein legte sich über meine Hüfte. Sie schien unter mir zu zerschmelzen. Ich spürte, was sie wollte. Wonach sie sich entgegen aller Vernunft verzehrte. Es wäre so einfach gewesen, ihr Sehnen zu erfüllen. Unter meinen Lippen und streichelnden Händen zitterte sie.
Hör auf, bevor es zu spät ist.
Sie gab einen fragenden Seufzer von sich, als ich zurückwich.
Ihr Geschmack vernebelte meinen Verstand.
Nie hatte ich mich so gefühlt. Wie eine Robbe zwischen Gaumen und Zunge eines Orcas. Irgendwo zwischen Angst, Ungläubigkeit und verzweifelter Euphorie.
Das Verlangen tobte in meinen Eingeweiden und focht ein Kampf gegen das Bedürfnis aus, dieses zarte Wesen einfach nur schützend im Arm zu halten.
Dass Letzteres in dieser Nacht den Sieg davon trug, lag nur an dem durchdringenden Tröten, dass plötzlich die Nacht zerfetzte.
Ich kannte diesen Laut. Es war die Hupe des Fischkutters.
„MacMuffin.“ Mari fuhr auf und schwankte benommen. „Oh verdammt, ich hatte ihn ganz vergessen. Mist, Mist, Mist.“
Hektisch zerrte Mari ihre Sachen aus dem Rucksack, zog sich an, raufte sich die Haare und stieß ein paar Flüche aus, die mich zutiefst rührten.
„Die Decke gehört dir“, sagte sie. „Sehen wir uns wieder?“
„Das wäre schön.“
„Würdest du … ich meine, hättest du Lust, morgen Abend zu uns zu kommen?“
Meine Vernunft rebellierte, doch ich ignorierte sie. „Ich komme, wenn die Sonne untergeht.“
Mari bückte sich, nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste mich. Beim Salz der See, ich wollte sie nicht gehen lassen. Ich wollte mit ihr hier liegen, die ganze Nacht lang.
Eine immerwährende Nacht lang.
Doch sie löste sich von mir, wischte eine Träne aus ihrem Augenwinkel und stürmte in die Dunkelheit hinaus. Ich hörte ihre Schritte auf den Dünen, dann das Rascheln des Strandhafers und zuletzt ein schleifendes Geräusch. Ihr Ruderboot, das über den Sand schrammte.
Maris Geruch hing in der Decke fest, die sie mir geschenkt hatte.
Ich zog sie bis zur Nase hoch, rollte mich zusammen und ließ mich darin fallen.
~ Mari ~
„Es ist nach Mitternacht“, polterte mein Vater los, kaum dass wir durch die Tür traten. „Ich bin fast gestorben vor Sorgen. Was fällt euch ein?“
„Tut mir leid“, brummte MacMuffin. „Aber ich habe das Seltsamste erlebt, dass man sich vorstellen kann. Orcas. Fünf Stück. Sie trieben mir die Fische ins Netz, ich sag’s euch. Den ganzen Nachmittag lang fing ich nichts, und dann, als ich die kleine Sprotte holen wollte, sind sie auf einmal aufgetaucht. Und mein Kutter soff fast ab, weil das Netz so schwer war. Glaubt mir es oder nicht, mir ist es gleich. Aber ich sage euch die Wahrheit.“
Dad und ich sahen uns an. Eine schweigende Konversation begann.
Er war es, oder?, sagte sein Blick. Er hat das gemacht, auch wenn ich nicht weiß, wie.
Ich habe ihn gefunden, bestätigte ich mit einem hauchfeinen Nicken.
Du bist verrückt ! Dad gab ein leises Knurren von sich und zog die Augenbrauen zusammen. Sein scharfer Blick durchbohrte zuerst mich, dann MacMuffin. Ich hätte dich nie gehen lassen sollen. Dir hätte sonst was passieren können. Ihr beide seid verrückt!
„Ich glaube dir, Muffy. Danke für’s Mitnehmen.“
„Das war das letzte Mal, dass ich sie alleine mit dir mitfahren lasse“, echauffierte sich mein Vater. „Ihr seid unzuverlässig und treibt mich in den Wahnsinn.“
„T’schuldigung“, nuschelte der Fischer
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