Sturmherz
Atemzug war alles so, wie es sein sollte. Ich wollte Evelyne umarmen und sie so festhalten, wie ich nur konnte, doch eine wohlige Lähmung hatte meinen Körper befallen. Alles, was ich tat, war ihren Kuss zu erwidern und die Berührung ihrer Hand zu spüren. Ganz gleich was geschah, ich würde dieses wunderbare Wesen beschützen. Vor allem, was ihm schaden wollte.
„Evelyne!“
Eine schneidende Stimme. Kalt wie ein Wintersturm. Neben uns tauchte ein Pferd mit Reiter aus der Dunkelheit auf, ein schwarzer Schatten vor dem nachtblauen Himmel. Jules.
Ohne ein Wort zu sagen, packte er Evelyne am Nachthemd und zerrte sie von meinem Pferd hinüber auf das seine. Ihr Wimmern weckte endgültig das Tier in mir. Das Brennen in meinem Unterleib schoss wie ein sengender Blitz in meinen Kopf und löste eine Wut aus, deren Heftigkeit mir fast den Verstand raubte. Vor meinen Augen wirbelten rote Schlieren. Ich griff nach Jules, bereit, ihn wie ein Karnickel am Genick zu packen, doch plötzlich richtete sich der Lauf einer Pistole auf mich.
„Eine Bewegung, junger Mann, und du bezahlst an Ort und Stelle für das, was du ihr angetan hast.“
„Was habe ich ihr denn angetan?“ Sein Blick brachte mich in Rage. Ich war kurz davor, die Waffe zu vergessen und mich auf ihn zu stürzen. Nein, ich war kurz davor, ihm die Seele herauszureißen. Das Pferd unter mir tänzelte. Es spürte das Raubtier, das sich gegen sein Gefängnis aus menschlichem Fleisch warf. „Ihre Tochter war glücklich, bis Sie kamen.“
„Schweig!“ Jules hielt den Lauf der Pistole an meine Stirn. „Oder ich beende dein nutzloses Leben an Ort und Stelle.“
„Hör auf!“ Evelynes Augen schwammen in Tränen. Ihre Hand schloss sich um Jules Arm und versuchte, ihn herunterzudrücken. Doch er bewegte sich keinen Millimeter. „Lass ihn in Frieden. Er kann nichts dafür. Ich bin ihm hinterher gelaufen.“
„Du redest nur, wenn ich es sage“, fauchte er. „Über die Konsequenzen deines Handels unterhalten wir uns später. Und was dich betrifft, junger Mann, du wirst schon noch lernen, was es heißt, dich zu benehmen. Ich werde dafür sorgen, dass man dir und deiner verwilderten Schwester Manieren einprügelt. Ihr werdet noch heute Abend eure Koffer packen. Morgen fahren wir zurück nach London, wo man euch gebührend in Empfang nehmen wird.“
„Soll ich etwa Angst vor dir haben?“ Ich fühlte mich kalt und mordlüstern. Unter den Worten strömte noch etwas anderes aus meiner Kehle. Das magische Raunen der See, dem kein Mensch widerstehen konnte, weil in ihrem Blut dasselbe Salz floss und ihr Körper tief in seinem Inneren denselben Rhythmus besaß wie die Wellen. „Wenn ich es wollte, könnte ich dich so leicht töten wie eine Sardine.“
Jules Miene gefror. Er spürte, was in mir ruhte, so wie es selbst die dümmsten Vertreter seiner Rasse spürten, und seine krampfhaft aufrecht erhaltene Beherrschung zerschmolz zu nichts.
„Tu ihm nichts, Vater.“ Evelynes Stimme war so leise und sanft, dass sie kaum zu hören war. „Tu ihm nicht weh. Bitte.“
Jules ließ mit einem abfälligen Schnaufen die Waffe sinken. Er hatte Angst, und er konnte nicht begreifen, warum er so fühlte. Wütend riss er das Pferd herum, stieß ihm die Hacken in die Flanken und preschte davon.
Die Erkenntnis, dass ich Evelyne nie wiedersehen und dass ihr Leben aus Unglück bestehen würde, schnürte mir das Herz zusammen. Warum konnte sie nicht bei uns bleiben und zufrieden leben, so wie sie es wollte? Warum musste ich sie gehen lassen mit einem Menschen, der kälter war als Eis?
Ich wollte ihn töten. Es wäre so einfach.
Doch ich rührte mich nicht. Stattdessen sah ich zu, wie sie in der Ferne verschwanden. Evelynes Fliederduft verlor sich in der Nacht, während kühler Regen auf mich hinab tröpfelte.
Als ich in die Gegenwart zurückkehrte, fiel noch immer Sonnenlicht in das Wasser. Es war das schwere Licht des späten Nachmittages, sein Gold machte das Blau des Meeres noch tiefer. Ich wickelte mich aus dem Tang und glitt in die schimmernde See hinaus. Boote tuckerten in der Ferne, viel mehr als sonst. Netze schrammten über den Boden. Ich hörte viele Stimmen oben über dem Wasser. Als ich auftauchte, um meine Lungen mit Luft zu füllen, sah ich acht dunkle Silhouetten über die glitzernde Fläche des Meeres ziehen, zwei davon so nah, dass die Fischer mich hätten entdecken können. Doch ihre Blicke gingen in andere Richtungen, und ihre Schiffe tuckerten gemächlich
Weitere Kostenlose Bücher