Sturmherz
weiter, als ich abtauchte und meine Suche begann.
Zwei Seelen warteten darauf, in die Tiefe gelockt zu werden. Wahnsinnig zu werden. Zerstört zu werden. Es war lange her, dass ich diesen schrecklichen Akt vollbracht hatte. Aber Dinge wie das Töten verlernt man nicht.
Kapitel 9
Wie ich ein Mensch wurde
„Wir gehen am Meer im tiefen Sand.
Die Schritte schwer und Hand in Hand.
Das Meer geht mit,
wir werden kleiner mit jedem Schritt.
Wir werden endlich winzig klein
und treten in eine Muschel hinein.
Hier wollen wir tief wie Perlen ruhn,
Und werden stets schöner, wie die Perlen tun.
Max Dauthendey
~ Louan ~
A ls Raers Zähne sich in meine Seite gruben, geschah es wie aus heiterem Himmel. Ohne Vorwarnung seitens meiner sonst so wachen Instinkte. Ich glitt gerade über schroffe, von Tiefseekorallen bewachsene Felsen, als er über mir auftauchte und mich angriff. Zu überrascht, um schnell genug zu reagieren, riss er eine tiefe Wunde in meine Seite. Blut umwölkte unsere Körper.
„Narr!“ Seine Stimme schnitt wie eine Klinge durch meinen Geist. „Hast du nichts aus der Vergangenheit gelernt? Bist du immer noch so dumm?“
Er schnappte erneut nach mir, doch diesmal war ich vorgewarnt. Als seine Zähne knirschend aufeinanderschlugen, packte ich seinen Nacken, biss zu und wirbelte ihn herum. Raer blieb stumm, doch ich spürte seine Schmerzen in meinem Kopf. Sie waren wie das scharfe Echo eines verklungenen Schreis. Verbunden waren wir noch immer. Nach all der Zeit. Eins im Blut, eins im Menschen und im Tier.
„Ich war hier“, knurrte er. „All die Jahre. Aber du hast mich nicht gespürt. Weil ich nicht wollte, dass du mich spürst.“
Meine Wut trat hinter Enttäuschung zurück. Er war bei mir gewesen, in meiner Nähe? All die Jahre? Während jeder Nacht, in der ich nicht schlafen konnte, weil mir das Atmen und Flüstern meiner Artgenossen fehlte? Während jeder Jagd, die ich allein vollzogen hatte? All die Bitterkeit, geboren aus der Natur eines Wesens, das geschaffen war, um in einer Gruppe zu leben, hatte nicht genügt, um Raer seinen Hass begraben zu lassen.
Wieder wich ich seinen zuschnappenden Zähnen aus. Hart klackten sie aufeinander. Zweimal, dreimal.
„Wir sind beide allein“, warf ich ihm in unserer lautlosen Sprache entgegen. „Wir können uns gegenseitig helfen.“
„Helfen?“ Er bellte das Lachen eines Seehundes. Funkelnde Blasen sprudelten aus seinem Maul. „Du beleidigst unsere Ahnen. Du stinkst nach Mensch.“
„Sie haben mir das Leben gerettet.“
„Narr“, wiederholte er. „Sie sind für kurze Zeit in uns verliebt, aber ihre Gier siegt immer. Entweder töten sie uns, oder wir töten sie.“
Er nickte in Richtung meiner Flanke, wo mich die Kugel getroffen hatte. „Das solltest du eigentlich wissen.“
„Warum kommst du jetzt zu mir? Was willst du?“
In mir erwachte die Lust, Raer etwas Brutales anzutun. Das Tier in mir wollte Rache. Damals hatte er Ciara so viel Angst eingejagt. Er hatte ihr wehgetan, sie um den Schlaf gebracht. Ich sah im Geiste noch immer die Blutergüsse seiner brutalen Bisse und Kniffe, die ihre zarte Haut verunstaltet hatten.
Allein dafür hatte er den Tod verdient.
Prickelnd schloss sich die Wunde an meiner Seite, geheilt vom Meerwasser, das sie durchspülte. Ich fühlte mich stark und bereit für den Kampf. Wütend bellte ich ihm meine Entschlossenheit entgegen.
„Ich will das Mädchen.“ Raer umkreiste mich wie ein lauernder Raubfisch. Sein silberner, geschmeidiger Körper tanzte im Wasser, kräftiger und stärker als damals. „Sie ist etwas ganz Besonderes. Ihr Lebenswille ist gewaltig. Sie könnte dafür sorgen, dass unsere Rasse wiederaufersteht. Aber der Gedanke kam dir sicher schon selbst, habe ich recht?“
Ungläubige Wut sickerte durch meine Adern.
Hatte ich mich verhört? Nein, ganz sicher nicht. Sein Blick sprühte vor Häme und Wahnsinn.
„Denk nicht einmal daran“, knurrte ich. „Sonst fressen Fische deine Eingeweide.“
„Willst du mich aufhalten?“ Raer bleckte scharfe Zähne. „Versuch es, kleiner Bruder. Versuch es nur. Komm her. Damals wie heute bist du mir unterlegen.“
Er schoss auf mich zu. Ich war schnell, doch nicht schnell genug. Er ging mit einer solch wilden Inbrunst auf mich los, wie ich sie nur von Orcas kannte, die Blut gewittert hatten. Seine Zähne streiften mein Fell, während ich ihm mit einer Drehbewegung auswich, doch statt sich hineinzubohren, ritzten sie es nur. So schnell mich meine Flossen
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