Sturmherz
trugen, schoss ich durch das Meer zur Küste zurück. In den Tangwäldern würde ich ihn abschütteln können. Dort kannte ich jede Höhle, jeden Felsen, jede Pflanze.
Raer mochte stärker sein, aber ich war wendiger. Alles, was mich umgab, wurde zu einem wirbelnden Strudel, in dem der mich verfolgende Schatten immer seltener auftauchte. Vor mir erschienen die Stängel des Tangs, wie ein Wald an Land aus dem Nebel auftaucht. Ich jagte mitten in sie hinein. Aus der Ferne erklangen die Salven erregter Klicklaute. Die Orcas kamen, um zu fressen. Angst schwängerte das Wasser. Ein Geruch, der aus vielen Körpern strömte, die vor der Bedrohung flohen.
Glatte Blätter streiften meinen Körper, Blasen perlten über mein Fell. Fische stoben auseinander, doch ich gönnte ihnen keine Beachtung. Raer war immer noch hinter mir, das Echo seines Zorns sagte mir, dass er keine Gnade zeigen würde. Es kümmerte ihn nicht, dass wir die letzten Überlebenden unserer Rasse waren. Er wollte Rache für etwas, an dem niemand die Schuld trug. Vielleicht hoffte er auch darauf, dass ich in diesem Kampf siegte und ihm alle Entscheidungen abnahm.
Während ich mich durch den Wald aus wogenden Blättern schlängelte, wurde mir eines klar. Es machte keinen Sinn, vor ihm zu fliehen. Unsere Wege würden uns solange zusammenführen, bis einer von uns starb. Oder bis wir beide aus dem Leben schieden.
Vor allem durfte Mari nichts geschehen.
Ich zweifelte nicht daran, dass Raer sich nehmen würde, wonach ihm der Sinn stand.
Der Überlebenstrieb des Tieres gab protestierend auf. Ich fuhr herum, ließ mich im Wasser treiben und wartete. Raer kam näher. Rasend vor Wut. Nichts kümmerte ihn mehr. Wenn er je Vernunft besessen hatte, war sie endgültig aus ihm getilgt worden. Dass er seine Wut jetzt herausließ, nach all den Jahrzehnten, konnte nur eins bedeuten: Mari war der Grund.
So konzentriert lauschte ich auf seine Nähe, dass ich den Schatten hinter mir erst bemerkte, als es fast zu spät war. Die Zähne, die mit brachialer Wucht zuschnappten, hätten mich in zwei Hälften geteilt, wäre der Instinkt des Tieres nicht stärker gewesen als meine menschlichen Schwächen. Ohne es bewusst entschieden zu haben, vollführte ich eine Drehung und entwischte dem Maul des Orcas um eine Fingerbreite.
Ein Warnlaut entkam meiner Kehle. Ebenfalls ein Instinkt aus alten Zeiten. Es spielte keine Rolle, was ich für Raer empfand. Er gehörte zu meiner Art, womit wir auf einer Ebene, die weder Mensch noch Tier beeinflussen konnten, vereint waren.
Drei der Wale nahmen meine Verfolgung auf, die anderen drehten ab. Vermutlich, um Raer in Empfang zu nehmen. Seine Wut lag im Wasser wie ein feiner, prickelnder Sog und heizte es auf. Als ich vor mir die Klippen von Westray auftauchen sah, gesellte sich zu der Wut der schale Geschmack von Angst. Mein Gegner hatte die Wale entdeckt. Für flüchtige Momente war sein Überlebenstrieb stärker als der Drang, mich zur Strecke zu bringen.
Gemeinsam flohen wir hin zum Strand. Durch die Stängel hindurch sah ich seinen Körper aufschimmern, ein heller Silberpfeil, verfolgt von den Orcas.
Es waren erfahrene Jäger. Lautlos schossen sie durch das Wasser, tauchten überraschend von beiden Seiten her auf und nahmen uns zugleich von unten ins Visier.
Klippen, überall Klippen. Wir brauchten den Strand, um ihnen zu entkommen. Raers Panik geriet außer Kontrolle. Ich sprach ihm im Geiste Mut zu, doch er antwortete nicht. Ein Orca schoss von unten auf ihn zu und streifte ihn mit seinem weit aufgerissenen Maul. Raer wurde beiseite geschleudert, hinüber zu einem zweiten Wal, der bereits auf ihn wartete. Ohne nachzudenken ging ich zwischen die beiden. Meine Zähne gruben sich in Raers Schwanzflosse und zogen ihn im letzten Moment aus dem zuschnappenden Orcamaul heraus. Mit einem heftigen Rütteln riss er sich von mir los und jagte weiter, hin zu dem blassen Schimmer, der vor uns auftauchte.
Endlich. Der Strand.
Ich verlangte meinem Körper alles ab, trieb ihn weit über seine Grenzen. Meine Sinne trübten sich. Ich nahm nichts mehr wahr, nur noch das sprudelnde Wasser, dann die Brandung und rauen Sand.
Mit aller Kraft robbte ich an Land, bis das Wasser hinter mir in einer Kaskade aus Gischt explodierte. Der Orca warf sich mit der Wucht einer Urgewalt an den Strand. Er schnappte nach mir, ließ seine riesigen Zähne aufeinanderschlagen, wand sich auf dem ihm verhassten Element und bäumte sich auf. Wäre ich nur eine Handbreit
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