Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
Vom Netzwerk:
jedem, nur er allein besäße die einzig wahre Version.“
    Louan zog schnell die richtigen Schlüsse. „Verängstigte Tiere, die allein sind, kann man leichter jagen.“
    Es verblüffte mich jeden Tag, wie groß seine Auffassungsgabe war. Seitenlange Texte gab er nach einmaligem Lesen oder Hören fehlerfrei wieder.
    Er lernte in kürzester Zeit Schach und trieb meinen Vater zur Verzweiflung, weil er partout nicht zu schlagen war. Er bediente den Computer nach kurzer Einweisung, zog sich aus dem Internet noch mehr Informationen und verfolgte Wissenschaftssendungen mit großer Neugier, ungeachtet der Tatsache, dass ihm flimmernde Bildschirme spätestens nach einer halben Stunde höllische Kopfschmerzen bereiteten.
    Was es für unsere Gehirne bedeuten mochte, dass wir uns oft stundenlang jeden Tag über viele Jahre hinweg vor solche Apparaturen hockten, wollte ich lieber nicht hinterfragen.
    Bald war nicht mehr Louan es, der uns Fragen stellte, sondern wir suchten Antworten bei ihm.
    Doch am glücklichsten machten ihn nach wie vor die einfachen Dinge des Lebens. Er liebte es, gemeinsam mit uns zu essen, sich in der Gärtnerei schmutzig zu machen oder sich um die Vögel zu kümmern, die ihm dermaßen ans Herz wuchsen, dass er oft stundenlang im Wintergarten saß und sie auf sich herumturnen ließ.
    Am meisten aber liebte er es, an meiner Seite einzuschlafen und aufzuwachen. Der Gedanke, dass er so lange Zeit allein gelebt hatte, draußen in der rauen Weite des Meeres, erschreckte und faszinierte mich. Was würde sein, wenn wir zusammenblieben und ich ihn eines fernen oder nahen Tages zurücklassen musste, weil meine menschliche Lebensspanne so kurz bemessen war? Würde er, jugendlich wie eh und je, an meinem Grab stehen und sich an mich erinnern?
    Oft schlief ich mit dieser Vision ein. Und wachte mit ihr auf.
    Manchmal, wenn wir abends eng umschlungen im Bett lagen, erzählte Louan mir Geschichten, um mich von diesem Gedanken abzulenken. Darüber, wie es war, im Seetang unter den Sternen zu schlafen, gewiegt von den Wellen. Er erzählte mir vom Blau der Tiefe und von den Geschichten, die die Grindwale zu berichten wussten, wenn sie auf ihren langen Wanderungen an den Orkneys vorbeikamen.
    Zeit schien im Meer eine andere Bedeutung zu haben. Die Dinge flossen dahin und kehrten wieder in einem ewigen Kreislauf.
    Wunderbar und monoton. Wehmütig und machtvoll.
    In eintausend Jahren reiste das Wasser mit den Strömungen einmal um die Erde, wieder und wieder, seit Milliarden von Jahren und bis ans Ende aller Zeit.
    In Louans Erzählungen wurde ich zu einem Jäger, der durch das Meer schoss, um Schwärme glitzernder Fische zu jagen. Ich kostete Freiheit und Einsamkeit, bis ich glaubte, weder ohne das eine noch ohne das andere leben zu können. Ich wurde zu einem Wesen, so kalt und zeitlos wie die See, das allein auf wellenumschäumten Felsen saß und das Brennen des Sturmes in seinem Herzen fühlte.

    Ein Traum riss mich aus dem Schlaf, an den ich mich nicht mehr erinnern konnte. Merkwürdige Gefühle rumorten in mir. Ich war unruhig, beklommen und traurig, doch all das schien nicht aus mir selbst zu kommen. An Schlaf war nicht zu denken, also machte ich mich auf den Weg nach unten in die Küche, um mir einen Becher mit heißer Milch und geriebener Muskatnuss zu holen. Im Wohnzimmer lief noch immer der Fernseher. Ich nahm an, dass es Dad und Olivia waren, die sich mal wieder zu Kaffee und Dosenpfirsichen alte Filmklassiker reinzogen, denn wenn Louan nachts nicht neben mir lag, saß er entweder in Menschengestalt auf den Klippen und schmachtete das Meer an, oder er schwamm als Tier unter den Wellen. War Ersteres der Fall, setzte ich mich meistens zu ihm, in ein oder zwei Decken gekuschelt. Dann hielt er mich schweigend im Arm und wärmte mich, bis die Morgendämmerung über den Ozean kroch. Ich liebte diese schweigenden Stunden, aber falls das heute wieder der Fall war, würde ich trotzdem ins Bett zurückkehren. Ich fror, ich war müde und bis in die Knochen erschöpft, ohne sagen zu können, warum.
    Mit dem heißen Becher in der Hand warf ich einen Blick ins Wohnzimmer und sah zu meiner Verblüffung Louans Silhouette vor dem Fernseher.
    Auf dem Bildschirm lief eine Reportage über die Ausrottung der Stellerschen Seekuh.
    Na wunderbar. Wenn das nicht das Sahnehäubchen auf seiner Exkursion in die Menschlichkeit war.
    „Die rindenartige Haut der Seekuh brachte ihr den Namen Borkentier ein“, berichtete eine sonore

Weitere Kostenlose Bücher