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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Männerstimme. „Ein Jahr lang lebte der Schiffsarzt und Naturforscher Georg Steller Seite an Seite mit den gewaltigen, bis zu zehn Meter großen Tieren. Zutiefst beeindruckt verewigte er seine Eindrücke in Form von Tagebüchern, deren Veröffentlichung nach seiner Rückkehr ein Massaker in Gang setzte. Jäger und Fischer stürmten die Inseln im Eismeer, auf denen die Stellerschen Seekühe seit ewigen Zeiten friedlich gelebt und sich von Algen ernährt hatten. Zwanzig bis dreißig Mann blieben am Ufer, das Ende des langen Taus haltend, an dessen Ende ein scharfer Eisenhaken befestigt war, während fünf mit einem Boot zu den Seekühen hinausruderten. Der Harpunier stieß einem ausgewählten Tier den Haken in den Leib, woraufhin die Männer am Ufer zu ziehen und zu zerren begannen. Zugleich rückte man dem verwundeten Tier vom Boot aus mit Bajonetten, Messern und Säbeln zu Leibe, bis es vor Blutverlust derart geschwächt war, dass man es an Land ziehen und zerlegen konnte. Die Jäger waren in ihrem Treiben überaus erfolgreich. Bereits zwanzig Jahre nach Stellers großer Entdeckung war keine der riesigen Seekühe mehr am Leben. Ihre Art war in Rekordzeit ausgerottet worden. Alles, was von ihnen übrig ist, sind ein paar Skelette und Hautfetzen. Viele Tiere teilen das Schicksal der Stellerschen Seekuh. Das Quagga, der Dodo, der Riesenalk und der Kaplöwe. Der Falklandfuchs, der chinesische Flussdelfin und der Beutelwolf. Java- und Bali-Tiger, Blaubock und Berberlöwe, Atlasbär, Seenerz und karibische Mönchsrobbe. Sie und noch viele andere Arten sind für immer vom Angesicht unserer Erde verschwunden. Ausgerottet vom gefährlichsten und tödlichsten Raubtier der Welt.“
    Louan blickte stumm zu mir auf, als ich mich zu ihm setzte. In dem übergroßen, schwarzen T-Shirt meines Vaters sah er verloren und verwundbar aus, was durch seine melancholisch dreinblickenden Seehundaugen auf geradezu unerträgliche Weise untermalt wurde. Verbissen hielt er sein Fell umklammert, als rechne er jeden Augenblick damit, Ruth und Aaron könnten ins Haus stürmen und es ihm aus den Armen reißen.
    Ohne ein Wort zu sagen saßen wir bis zum Morgengrauen nebeneinander, Schulter an Schulter, Hand in Hand, und verfolgten die Themennacht Neuzeitlich ausgestorbene Tiere . Ich wusste, was Louan fühlte.
    Und er wusste, wie mir zumute war. Wir brauchten keine Worte in dieser Nacht. Als in der ersten Morgendämmerung mein Handy klingelte, das noch immer im Rucksack an der Garderobe verstaut war, erschienen mir die Töne falsch und fremd.
    Existierten meine normalsterblichen Freunde überhaupt noch? Existierten noch die Schule, unser ewig schlecht gelaunter Mathelehrer und die nervtötend dumme Mädchengang in meiner Klasse, die es witzig fand, sich über mich kaputtzulachen?
    Der Gedanke, in wenigen Wochen in einen Alltag zurückkehren zu müssen, der Lichtjahre entfernt schien, war surreal.
    Schlaftrunken angelte ich mein uraltes, nur noch aus reinem Trotz funktionierendes Handy aus dem Rucksack und tippte auf den grünen Knopf.
    „Heute 21 Uhr in der Bucht?
    Bring deinen geheimnisvollen neuen Freund mit.
    Alice.“
    Na wunderbar. Meine Sitznachbarin in der Schule. Woher wusste sie von Louan? Höchstwahrscheinlich hatte sie uns bei einem unserer Ausflüge gesehen, obwohl wir ausschließlich früh am Morgen in die Stadt gefahren waren, in der Hoffnung, während der Ferien um diese Zeit niemanden aus meiner Schule zu treffen. Oder ihre Eltern waren uns begegnet und hatten Alice von meiner Begleitung erzählt.
    „Lust auf eine Party?“, fragte ich in die Stille hinein.
    Louan blinzelte müde zu mir auf. Ich konnte nicht anders, legte das Handy auf den Sofatisch, kniete mich vor ihn und bedeckte seinen Mund mit Küssen, während ich beide Hände in seine verwuschelten Haare tauchte.
    Himmel, er machte mich verrückt. Ich wollte ihn mir einverleiben. Ich wollte ihn umklammern, in ihn hineinkriechen, ihn auffressen.
    „Von mir aus“, nuschelte er zwischen zwei Küssen. „Klingt nach Abenteuer.“
    „Du hast ja keine Ahnung. Alice ist okay, aber seltsam. Im Sinne von … keine Ahnung, jedenfalls nicht seltsam im Sinne von mir oder dir. Sie besitzt zwei Möpse namens Mjöllnir und Bifröst. Ich meine Hunde. Möpse im Sinne von … du weißt schon. Vielleicht bringt sie sie ja mit.“
    „Thors Hammer und die Brücke nach Walhalla.“ Louan räkelte sich unter meinen streichelnden Händen und gab ein seliges Schnurren von sich. „Hmm, musst du

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