Sturmjahre
Pulsschlag auf. Samantha drückte das kleine Geschöpf an sich, neigte den Kopf über es und weinte.
7
Der Wagen war zu elegant für sie, aber Samantha hatte das Geschenk nicht ablehnen können. Bethenia Taylor, die Frau des Eisenbahnmagnaten, hatte jahrelang an einem Bruch gelitten, und Samantha hatte ihn behoben. Zum Dank hatte ihr die Frau diesen eleganten Wagen mit Laternen aus Silber und geschliffenem Glas und Hartgummireifen geschenkt, die die Fahrt weich und bequem machten. Samantha hatte ihn verkaufen wollen, aber Hilary hatte sie davon abgehalten. Als Ärztin brauchte sie einen Wagen, hatte sie gesagt; es sei doch absurd, daß Samantha mit der Kabelbahn zu ihren Hausbesuchen fahre. Dennoch war es Samantha jedesmal peinlich, wenn sie in dem Wagen vor ihrem Haus vorfuhr, und sie war immer froh, wenn er wieder in der Mietgarage drüben, auf der anderen Straßenseite, verschwand.
{328} Müde und niedergeschlagen stieg sie die Treppe hinauf. Alle Lust aufs Ausgehen war ihr vergangen. Viel lieber hätte sie den Abend ruhig mit Jenny verbracht, ihrer Tochter, die sie liebte …
In den drei Jahren, seit Jenny bei ihr war, hatte Samantha nie die Hoffnung aufgegeben, daß sie ihr eines Abends bei der Heimkehr entgegenlaufen und sie umarmen würde. Doch auch an diesem Abend war es wie immer: Samantha, die einen Moment stehenblieb, um auf den Klang eilender Schritte zu lauschen, hörte nur das Klaviergeklimpere von nebenan und das Rattern des Verkehrs auf der belebten Straße.
Seufzend schloß sie die Tür hinter sich.
Miss Peoples, die Haushälterin kam aus der Küche. »Dr. Hargrave, guten Abend. Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen unwohl aus.«
»Ich bin müde, Miss Peoples. Es war ein schlimmer Tag.«
Miss Peoples wußte, was das zu bedeuten hatte. Wieder jemand gestorben, dachte sie, und Samantha tat ihr leid.
»Mr. Dunwich ist hier«, sagte sie, während sie Samantha Mantel und Tasche abnahm.
»Was? Aber das ist ja eine Stunde zu früh!«
Die Haushälterin breitete hilflos die Hände aus.
»Na ja, schon gut, Miss Peoples. Bieten Sie ihm einen Brandy an und sagen Sie ihm, daß ich gleich komme.«
Verwundert und verärgert über Warrens vorzeitiges Eintreffen, das so ganz untypisch für ihn war, ging Samantha nach oben. Sie sehnte sich dringend nach etwas Ruhe, um ausspannen zu können.
Warum? Warum hatte das Kind sterben müssen? Die Medizin hatte in den letzten Jahren Riesenfortschritte gemacht, aber immer noch starben unzählige Säuglinge. Dagegen mußte doch etwas zu tun sein!
Der Tod dieses namenlosen Kindes jedoch war nicht der einzige Grund für Samanthas gedrückte Stimmung an diesem Abend. Auch andere Dinge beschäftigten sie, darunter das Problem mit Mrs. Cruikshank.
Nachdem Samantha eine Weile allein in ihrem Büro gesessen hatte, um sich nach dem Tod des Kindes wieder zu fassen, war sie zu einem Gespräch mit Mrs. Cruikshank in den Krankensaal gegangen.
Nachdem sie erklärt hatte, warum die Operation abgeblasen worden war – »Wir konnten es nicht riskieren; der Äther wirkte nicht bei Ihnen« –, stellte Samantha einige gezielte Fragen. Aber es zeigte sich nichts. Nein, sagte die Frau, sie rauche nicht; sie tränke auch keinen Alkohol, nicht einmal ein gelegentliches Glas Wein. Nein, sie hätte nie Beschwerden an den Atmungsorganen gehabt.
Samantha war völlig verwirrt, bis die Frau sagte: »Ich war mein Leben {329} lang kerngesund, Doktor. Bis auf diese Zyste. Und die Anämie damals.«
»Sie hatten Anämie?«
»Ja, aber das ist Jahre her. Darum hab’ ich’s gar nicht erwähnt. Ich hab’ jetzt wieder richtig kräftiges und gesundes Blut.«
»Wie wurde Ihre Anämie denn geheilt, Mrs. Cruikshank?«
»Mein Arzt sagte, ich solle ein Stärkungsmittel nehmen. Ich bin in die Apotheke gegangen, und der Apotheker empfahl mir Johnstons Bluttonikum. Und es wirkte prompt, sage ich Ihnen. Sobald ich es ein paarmal genommen hatte, fing ich an, mich wohler zu fühlen.«
»Wie lange ist das her?«
»Siebzehn, achtzehn Jahre.«
Samantha schüttelte den Kopf. Da gab es keinen Zusammenhang.
»Aber ich hab’s natürlich weitergenommen«, fügte Mrs. Cruikshank hinzu, »weil auf dem Etikett stand, daß die Anämie wiederkommt, wenn man aufhört, das Tonikum zu nehmen.«
»Sie nehmen seit achtzehn Jahren Johnstons Tonikum?«
»Regelmäßig.« Die Frau griff in den kleinen Nachttisch neben ihrem Bett und nahm eine Flasche heraus. »Ohne mein Tonikum geh’ ich nirgends hin. Ich hab’s
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