Sturmjahre
aus ihrer Isolation herauszuholen, hatte sie einen Hauslehrer engagiert, einen gewissen Adolf Wolff, der mit Beginn des neuen Jahres zu ihnen ins Haus ziehen würde. Die Schule hatte ihr den Mann als ausgezeichneten Lehrer gerade für ein taubstummes Kind emp {322} fohlen, der sich, da er selbst taub war, aber sprechen konnte, besonders gut einfühlen konnte in die Welt eines solchen Kindes.
Nachdem Samantha diese Entscheidung getroffen hatte, war sie in Gedanken noch einen Schritt weiter gegangen. Sie wollte Jenny ein möglichst schönes Zuhause geben, und jetzt, wo sie ihre Patienten im Krankenhaus empfing und nicht mehr in der Praxis, bestand keine Notwendigkeit, weiter in der Kearny Street wohnen zu bleiben, die wahrhaftig nicht gerade im besten Stadtviertel war. Außerdem war das Haus genaugenommen zu klein, besonders wenn jetzt noch der Hauslehrer einzog. Darius hatte ihr vorgeschlagen, nach Pacific Heights zu ziehen, ein ruhiges gepflegtes Viertel, mit hübschen Häusern, die alle einen Garten hatten. Die Vorstellung von einer vergnügt im Garten spielenden Jenny und von einem eigenen Arbeitszimmer verlockte Samantha. Vielleicht würde sie Darius nach den Feiertagen bitten, sich für sie umzuhören.
Sie stieß die Tür zum Untersuchungszimmer auf und sagte: »Guten Tag. Ich bin Dr. Hargrave.«
Das Mädchen, das gewiß nicht älter als siebzehn war, sprang auf. Ehe Samantha zum Becken ging, um sich die Hände zu waschen, registrierte sie mit einem raschen Blick die nervös zuckenden Hände, das ungewöhnlich blasse Gesicht, das unterwürfige, ängstliche Gebaren.
»Es ist Heiliger Abend«, sagte Samantha lächelnd, während sie sich die Hände trocknete. »Ich könnte hundert Plätze aufzählen, wo ich jetzt lieber wäre, als ausgerechnet im Krankenhaus. Geht es Ihnen auch so?«
»Ja, Doktor …«
Samantha bat das Mädchen, sich zu setzten, ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder und fragte freundlich: »Also, was haben Sie denn für Sorgen?«
Ihre Tage waren zweimal ausgeblieben, und jeden Morgen war ihr speiübel. Während das Mädchen stockend berichtete, fiel Samantha wieder ihre Ängstlichkeit auf. An ihrer Kleidung sah sie, daß sie aus der Arbeiterschicht kam, und ahnte, was kommen würde. Frauen aus der Arbeiterklasse gingen fast nie zu einem Arzt, um sich bestätigen zu lassen, daß sie schwanger waren. Sie lernten schon in früher Jugend die Tatsachen des Lebens und lebten oft in großen Familien, wo eine Mutter oder eine Tante da war, um ihnen zu raten. Dennoch untersuchte Samantha das Mädchen und sagte: »Meinen Glückwunsch, Mrs. Montgomery, Sie erwarten ein Kind.«
Die Reaktion des Mädchens überraschte sie nicht. »Nicht Mrs. Montgomery. Ich bin Miss Montgomery. Auf den Glückwunsch kann ich, ehrlich gesagt, verzichten. Ich wußte schon, daß ich ein Kind kriege.«
{323} »Warum sind Sie dann hergekommen?«
Miss Montgomery wich Samanthas Blick aus. »Ich will es nicht haben.«
»Das Kind?«
»Es war ein Versehen, verstehen Sie? Na ja, ich hatte ein bißchen Gin getrunken, und der Bursche sagte, er würde mich heimbegleiten. Mich legt so leicht keiner um, Doktor, wissen Sie, aber es passierte, eh’ ich richtig wußte, was los war, und ich seh den Kerl bestimmt nie wieder. Es war ein einziger Reinfall.«
»Und was wollen Sie denn nun von uns?« Samantha wußte sehr wohl, was das Mädchen wollte, aber sie wollte es von ihr selbst hören.
Das Mädchen blickte zu Boden. »Sie sollen es mir wegmachen.«
»Warum wollen Sie es nicht behalten?«
Als das Mädchen den Kopf hob, waren ihre Augen voller Furcht. »Ich kann ja nicht zu Hause bleiben und mich um das Kind kümmern. Ich muß arbeiten. Ich muß für meinen Vater und meine kleinen Brüder sorgen. Ich bin die einzige, die Geld heimbringt. Ich kann sie doch nicht einfach verhungern lassen.«
»Wo arbeiten Sie?«
»Bei der Union Wäscherei in der Mission Street. Die würden mich rausschmeißen, sobald man was merkt –« Sie fing an zu weinen – »und dann hätten wir überhaupt nichts mehr zu beißen. Ich kann das Kind nicht behalten, Doktor. Es tut mir leid, daß ich so blöd war, aber ich kann’s nicht behalten.«
Samantha nickte und schwieg einen Moment nachdenklich. Dann sagte sie: »Miss Montgomery, ich glaube, Sie hat der liebe Gott zu mir geschickt.«
»Wieso?«
»Ich kenne eine Frau, eine sehr liebe Frau, die seit Jahren ein Kind haben möchte und keines bekommt. Vor kurzem haben sie und ihr Mann nun
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