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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Miss Peoples hatte recht, sie sah unwohl aus.
    Jeder Tod einer Frau oder eines Kindes raubt mir Kraft.
    Tränen brannten in ihren Augen. So viele mußten sterben. Säuglinge, die mit Herzfehlern oder Defekten an den Atmungsorganen zur Welt kamen, blind geborene, verkrüppelt geborene Kinder. Und unzählige dieser Defekte waren auf falsches Verhalten der unwissenden Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen. Gewiß, an ihrem Krankenhaus lag die Säuglingssterblichkeit unter dem Durchschnitt, aber das war nicht genug. Es starben dennoch zu viele Neugeborene; es starben dennoch zu viele Kinder, die gerade erst anfingen, das Leben beim Schopf zu packen, an heimtückischen Krankheiten, die auf lautlosen Füßen durch die Stadt schlichen.
    Samantha senkte den Kopf und stützte ihn auf ihre gefalteten Hände.
    Leises Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. Sie sah auf ihre Uhr. Guter Gott, seit einer Stunde saß sie schon hier! Warren!
    Die Haushälterin öffnete die Tür und streckte den Kopf ins Zimmer. »Ach, da sind Sie, Dr. Hargrave. Ich dachte, Sie hätten sich vielleicht hingelegt.«
    »Entschuldigen Sie, Miss Peoples. Ich habe überhaupt nicht auf die Zeit geachtet. Ich hoffe, Mr. Dunwich ist nicht verärgert.«
    »Er sitzt mit seinem Brandy im Salon. Ich habe ihm erklärt, daß Sie einen Moment Ruhe brauchen. Er ist sehr verständnisvoll.«
    »Ja, das ist er. Ich werde mich beeilen.«
    »Ich wollte Sie fragen, Dr. Hargrave, ob ich Miss Jenny jetzt das Abendessen machen soll?« Mit dem kleinen Mädchen an der Hand trat sie ins Zimmer.
    Augenblicklich hatte Samantha all ihre trüben Gedanken vergessen. Sie drehte sich um und breitete die Arme aus. »Komm zu mir, Herzchen.«
    Von Miss Peoples mit einem leichten Klaps in Bewegung gesetzt, trat Jenny in die ausgebreiteten Arme Samanthas, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen.
    »Mr. Dunwichs frühes Kommen hat alles durcheinandergebracht«, sagte {332} Samantha zur Haushälterin, während sie Jenny über das Haar strich. »Jetzt habe ich nicht einmal mehr Zeit für das Kind.«
    Jenny war elf Jahre alt, aber immer noch klein und sehr zierlich. Ihr schmaler Körper kam Samantha beinahe zerbrechlich vor. »Ach, wie schade, daß uns jetzt keine Zeit bleibt, Jenny«, murmelte Samantha. »Aber ich verspreche dir, ich mache es wieder gut. Morgen bin ich den ganzen Tag da. Erst öffnen wir unsere Geschenke und dann machen wir mit dem Wagen eine lange Spazierfahrt …«
    Im vergangenen Sommer, nachdem Samantha beschlossen hatte, das Kind doch nicht auf die Taubstummenschule in Berkeley zu schicken, hatte sie versucht, Nachforschungen über Jennys Herkunft anzustellen, um vielleicht die Ursache für ihre Taubheit in Erfahrung zu bringen. Aber als sie in das Elendsviertel gekommen war, hatte man die Mietskaserne abgerissen, und die irischen Familien, die dort gehaust hatten, waren in alle Winde zerstreut. Ein alter Priester der katholischen Gemeindekirche erinnerte sich der O’Hanrahans und ihrer seltsamen kleinen Tochter, aber er konnte Samantha nur berichten, daß einige Jahre zuvor Scharlach im Viertel ausgebrochen war, zu einer Zeit, als Jenny etwa zwei Jahre alt gewesen sein mußte. Wenn Jenny die Krankheit bekommen hatte, dann konnte das die Ursache für die Taubheit sein. Aber es erklärte weder ihre Stummheit noch ihre Verschlossenheit und augenscheinliche Gefühllosigkeit.
    Samantha hielt Jenny lange in den Armen und wartete wie immer vergeblich darauf, daß das Kind seinerseits die Arme um ihren Hals legen würde. Schließlich stand sie auf.
    »Bitte sagen Sie Mr. Dunwich, daß ich in fünf Minuten hinunterkomme«, sagte sie zur Haushälterin.
    Weder Samantha noch Miss Peoples sahen den sehnsüchtigen Blick, mit dem Jenny sich noch einmal nach Samantha umdrehte, als sie hinausgeführt wurde.
     
    Warren Dunwich sah auf den Regulator auf dem Kaminsims und verglich die Zeit mit der auf seiner Taschenuhr. Drei Minuten Unterschied. Er klappte die Uhr zu und schob sie in seine Westentasche. Der Regulator auf dem Kamin ging nach; wenn es etwas gab, worauf Warren Dunwich stolz war, dann seine absolute Pünktlichkeit. Daß er an diesem Abend vorzeitig hierher gekommen war, widersprach völlig seiner Art, aber es war notwendig gewesen. Nach tagelanger sorgfältiger Überlegung hatte Warren Dunwich beschlossen, an diesem Abend Samantha die entscheidende Frage zu stellen, und dazu wollte er mit ihr allein sein.
    {333} Mit kritischem Blick sah er sich im Salon um.

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