Sturmjahre
Eigenartig, daß eine Frau von Samantha Hargraves Prestige und gesellschaftlichem Stand in solcher Umgebung lebte. Das Haus war sauber, geschmackvoll eingerichtet, immer ordentlich, aber Schliff und Eleganz fehlten. Sie hatte in letzter Zeit davon gesprochen, daß sie sich ein Haus in einem besseren Viertel kaufen wolle. Nun, Warren Dunwich hatte einen besseren Einfall. Er wollte die alte Harrold Villa kaufen und Samantha den Vorschlag machen, als seine Frau mit ihm in das vornehme Haus zu ziehen.
Das hieß nicht, daß Warren Dunwich in Samantha verliebt war oder sie gar liebte; er war ein kalter Mensch, der die Liebe gar nicht kannte. Was ihn zu Samantha hinzog, war Faszination, ein Drang, das Geheimnis dieser Frau zu lüften, der an Besessenheit grenzte.
Als Warren Dunwich fünf Monate zuvor die Einladung zum Einweihungsfest für das neue Krankenhaus angenommen hatte, hatte er das nur getan, um alte Bekanntschaften aufzufrischen, mit denen er aufgrund seiner vielen Reisen den Kontakt verloren hatte. Er hatte nicht vorgehabt, lange zu bleiben. Aber dann hatte er Samantha Hargrave gesehen und war sofort gefesselt gewesen. Nichts interessierte Warren Dunwich brennender als eine geheimnisvolle Frau. Unweigerlich drängte es ihn, sie zu erforschen wie einen unbekannten Erdteil, um sie dann, wenn sie ihm keine Überraschungen mehr bieten konnte, fallenzulassen und nach der nächsten reizvollen Herausforderung Ausschau zu halten.
Nur eine Frau hatte es bisher in seinem Leben gegeben, die nicht so rasch zu durchschauen und einzuordnen gewesen war, und das hatte ihn so gereizt, daß er die Dame geheiratet hatte, um seine Forschungen tiefer und nachdrücklicher betreiben zu können. Dieser Frau, der ersten Mrs. Dunwich, war er bald müde geworden, und ihre Ehe war zu einem höflichen Nebeneinander zweier Fremder geworden.
Jetzt hatte er ein neues Geheimnis entdeckt, und von allen Frauen, die er bisher gekannt hatte, war Samantha Hargrave die
reizvollste und verwirrendste.
Er hatte es sich augenblicklich zum Ziel gesetzt, sie zu erforschen, alles über sie in Erfahrung zu bringen, hatte jedoch zu seiner Überraschung und zur Erhöhung seiner Neugier entdeckt, daß sie ihr Innerstes sorgsam verschloß. Es kam höchst selten vor, daß sie ihm einen flüchtigen Blick hinter die Fassade erlaubte, aber das hatte ihn nicht etwa entmutigt, sondern sein Interesse nur verstärkt.
Langsam war Warren klar geworden, daß höfliches Werben, auch wenn noch so beharrlich, niemals zur Offenbarung des lockenden Mysteriums dieser Frau führen würde. Wenn er sein Ziel erreichen wollte, mußte er {334} direktere Maßnahmen ergreifen. Für Warren war die Heirat nicht, wie für manche Männer, ein Opfer; sie war ihm einzig Mittel zum Zweck. Und wenn er auch gefühlskalt war, so fehlte es ihm doch nicht an Leidenschaft: Zur Ehe mit ihr lockte ihn nicht nur die Möglichkeit, dann bis auf den Grund ihres Wesens vordringen zu können, sondern auch die Aussicht auf gemeinsame Nächte.
»Warren, verzeihen Sie mir!«
Er stand auf und ging ihr entgegen.
»Ich muß
Sie
um Verzeihung bitten, Samantha. Mein frühes Kommen hat vermutlich Ihre Pläne durcheinander gebracht. Aber ich versichere Ihnen, es war keine Impulshandlung.«
Warren Dunwich war unbestreitbar ein gutaussehender Mann, fesselnd in seiner aristokratischen Eleganz. Wenn nur auch sein Wesen so fesselnd gewesen wäre!
»Bitte setzen Sie sich doch, Warren. Darf ich Ihnen noch etwas anbieten?«
Als Samantha zum Servierwagen ging, der vor dem Erkerfenster stand, sah sie erstaunt, daß die Straße draußen von Feuchtigkeit glänzte. Es war ein sonniger Tag gewesen, aber jetzt wälzten sich vom Meer her schwere Wolken heran, und ein feiner Regen fiel.
Sie setzten sich in die beiden Lehnstühle am Kamin.
»Wie geht es im Krankenhaus, Samantha?« fragte er, wie er stets zu tun pflegte.
Sie zögerte. »Wir haben viel zu tun, aber es geht alles gut, danke. Und Ihre Geschäfte?«
»Bestens.« Er trank einen Schluck Brandy. »Und wie geht es Jenny?«
»Sie ist meine ganze Wonne.«
»Ich bewundere Ihre Fürsorge für das Kind, Samantha, das doch gar nicht Ihr eigenes ist.«
Samantha warf ihm einen scharfen Blick zu, dann zuckte sie innerlich die Achseln. Sie konnte nicht verlangen, daß alle ihre Ansicht teilten, daß ein Kind Liebe und Fürsorge brauchte, ob es nun das eigene war oder nicht. Außerdem hatte Warren ja bei Jenny wenig Glück. Obwohl er sie fast jedesmal beschenkte, wenn
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