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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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immer in der Tasche.«
    Samantha nahm die Flasche und las das Etikett. Es versprach alles, vom Aufbau dünnen Bluts bis zur Heilung von Impotenz. Die Zusammensetzung des Mittels jedoch wurde nirgends angegeben.
    »Wieviel nehmen Sie, Mrs. Cruikshank?«
    »Also, angefangen hab’ ich mit einem Eßlöffel morgens und einem Eßlöffel abends. Aber nach einer Weile merkte ich, daß ich mehr nehmen mußte. Der Körper gewöhnt sich wahrscheinlich an so was. Jetzt trinke ich morgens ein Glas, mittags eines, dann eines zum Abendessen und ein letztes vor dem Zubettgehen.«
    »Aber, Mrs. Cruikshank, das ist ja die ganze Flasche.«
    »Eine Flasche pro Tag, ja, das kommt ungefähr hin, Doktor. Aber es ist ein gutes Mittel. Es hält mich auf Trab. Wenn ich’s mal nicht nehme, merk’ ich sofort, was für schlechtes Blut ich hab’. Ich werd’ schwach und zittrig und furchtbar schlecht gelaunt.«
    Samantha zog den Korken aus der Flasche und roch daran. Der Alkoholgeruch was so stark, als atme man reinen Whisky ein. Mrs. Cruikshank war Alkoholikerin. Das war der Grund, weshalb sie auf den Äther nicht ansprach.
    Während Samantha jetzt an ihrem Toilettentisch saß und ihr Haar löste, um es kräftig durchzubürsten, stiegen Zorn und Enttäuschung in ihr {330} hoch. Die Arbeit am Krankenhaus brachte ihr ungeheure Befriedigung und Erfüllung, gewiß, aber man konnte das beste Krankenhaus der Welt mit den besten Ärzten und Pflegerinnen einrichten, wenn ein Problem – das Grundproblem – blieb: die Unwissenheit der Leute. Es reichte nicht, nach einem Unglück ärztliche Versorgung und Pflege zu geben; die Frauen mußten vorher aufgeklärt werden, ehe es zu den Unfällen kam, ehe sie zu der Flasche griffen, die sie süchtig machte, ohne ihr wirkliches Leiden zu beheben.
    Aber wo lag die Verantwortung des Arztes und wie weit reichte sie? Wo waren ihre Grenzen? Im Laufe ihrer medizinischen Praxis, insbesondere seit Eröffnung ihres Krankenhauses, war Samantha immer wieder bewußt geworden, daß viele der Fälle, die sie behandelte, über das rein Medizinische hinaus mit moralischen und gesellschaftlichen Fragen verknüpft waren. Wie weit sollte sie als Ärztin sich vorwagen?
    Da kamen Frauen, die von ihr wissen wollten, welche Mittel es gäbe, um den Beischlaf erträglicher zu machen, damit sie ihre Männer nicht mehr abweisen müßten. Da kamen Frauen, die eine weitere Schwangerschaft nicht ertragen konnten oder wollten und von ihr Ratschläge zur Verhütung erwarteten. Es kamen Prostituierte, jene Frauen, bei denen sich die zurückgewiesenen Ehemänner schadlos hielten. Alle diese Dinge gingen über das Medizinische hinaus; es waren gesellschaftliche Fragen. Samantha sah die Ursachen der Mißstände, aber sie konnte nichts tun, um eine Veränderung herbeizuführen.
    Die Empfängnisverhütung war eines der Hauptthemen, mit denen Samantha von ihren Patientinnen konfrontiert wurde. Könnten sie sich ihren Ehemännern ohne die Furcht vor einer Schwangerschaft hingeben, so könnten sie zärtlicher und liebevoller sein, eher bereit, mit ihren Männern zu schlafen, die dann zu Hause bleiben würden, anstatt bei irgend einer Prostituierten Befriedigung zu suchen. Weniger Säuglinge würden ausgesetzt werden, weniger Abtreibungen versucht werden, weniger Frauen noch vor Vollendung des dreißigsten Lebensjahres sterben, weil sie von jährlichen Schwangerschaften ausgezehrt waren. Aber das Gesetz war klar: Die Ausgabe von Verhütungsmitteln war verboten.
    Samantha stellte mit Schrecken fest, wie wenig die Frauen über ihren eigenen Körper und grundlegende Regeln der Gesundheit wußten. Wie Mrs. Cruikshank, die in aller Arglosigkeit täglich ihr Tonikum, das einer Flasche Whisky entsprach, trank und alkoholsüchtig war. Da wuschen Frauen ihr Geschirr in dem Wasser, in dem am Tag zuvor die ganze Familie gebadet hatte; da gab es Frauen, die fest glaubten, die empfängnisfreien Tage wären die in der Mitte ihres Zyklus, und andere, die glaubten, {331} Wasserlassen unmittelbar nach dem Beischlaf verhinderte die Schwangerschaft. Frauen der oberen Gesellschaftsschicht schnürten sich täglich so eng, daß sie ihren Brustkorb deformierten, arbeitende Mütter beruhigten ihre schreienden Säuglinge mit Winslows Schlafsaft und wußten nicht, daß er Morphium enthielt. Jeden Tag wurde Samantha mit Leiden konfrontiert, die mit ein bißchen Aufklärung hätten vermieden werden können.
    Die Haarbürste vergessen in der Hand, starrte sie in den Spiegel.

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