Sturmjahre
auf und ging ans Fenster. Am Servierwagen goß sie sich ein kleines Glas Brandy ein. Draußen regnete es jetzt in Strömen.
Warren Dunwich hatte, ohne es zu wissen, einen wunden Punkt berührt. Den Blick auf regennasse Droschken und feucht glänzende Pferde gerichtet, die draußen auf der Straße vorüberzogen, erinnerte sich Samantha an eine ähnliche regnerische Nacht vor vier Jahren, die Nacht, als Clair geboren worden war.
{337} Die Wehen hatten Samantha so plötzlich überfallen, daß sie die Hebamme nicht mehr hatte holen können. Allein in ihrem Schlafzimmer hatte sie Clair zur Welt gebracht. Sie hatte selbst die Nabelschnur durchschnitten und das Kind auf ihre Brust gelegt, während sie auf die Ausstoßung des Mutterkuchens gewartet hatte. Es war einer der wunderbarsten Augenblicke ihres Lebens gewesen.
Noch einmal ein Kind zu bekommen …
Samantha trank von dem Brandy und spürte, wie er sie von innen erwärmte.
Warrens Antrag hatte sie nicht übermäßig überrascht. Auf den ersten Blick schien es da nichts zu bedenken zu geben. Sie liebte ihn nicht, sie hatte ihren Beruf, ihre Arbeit, sie brauchte nicht zu heiraten. So viele Frauen gab es, die ohne Liebe in eine Ehe gingen, nur um dem Stigma der Altjüngferlichkeit zu entgehen; für andere war die Ehe eine Flucht aus der Einsamkeit. Aber das waren für Samantha keine Gesichtspunkte.
Oder, fragte sie sich, das Glas an den Lippen, bin ich vielleicht doch einsam? Die Antwort machte sie frösteln: Ja, manchmal. Aber ist das ein Grund zur Heirat?
Samantha starrte auf ihr Spiegelbild im Fenster und auf das Bild Warren Dunwichs, der vor dem Kamin saß und geduldig auf ihre Antwort wartete.
Es gab überhaupt keinen Grund, ihn zu heiraten.
Und warum, fragte sich Samantha, sage ich dann nicht hier gleich und jetzt nein? Warum zögere ich?
Wie wunderbar, noch einmal ein Kind zu bekommen …
Da fiel ihr Mark ein, und sie wollte plötzlich nur noch allein sein.
Miss Peoples zog Jenny durch den Flur und redete aus reiner Gewohnheit auf sie ein. »Also schön, Missy. Wir sagen deiner Mama noch gute Nacht, und dann geht’s ins Bett. Morgen früh kommt der Heilige Nikolaus durch den Kamin gesaust.«
Als sie die Tür zum Salon erreichten, sah die Haushälterin, daß sie nur angelehnt war, und gab Jenny einen leichten Puff, ehe sie die Tür öffnete und ins Zimmer trat. Sie wollte eben auf sich und das Kind aufmerksam machen, als sie sah, wie Warren Dunwich, der die beiden an der Tür nicht bemerkte, von seinem Sessel aufstand und zum Fenster ging, wo Samantha stand. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich herum. Hastig zog Miss Peoples Jenny zurück.
Aber Jenny leistete Widerstand. Sie stand wie festgewachsen, den Blick {338} unverwandt auf den Mann mit dem weißen Haar gerichtet, der Samantha festhielt und auf sie einredete.
Als Warren den Kopf neigte und Samantha küßte, riß Jenny sich von der Haushälterin los und stürzte sich kreischend auf ihn. Erschrocken fuhr Warren herum. Jenny schlug mit beiden Fäusten heulend auf ihn ein, dann schloß sie ihre Arme fest um Samantha.
»Was zum Teufel!« rief Warren erbost.
Bestürzt versuchte Samantha, sich aus Jennys Umklammerung zu lösen, aber die hielt fest. Durchdringende Klagelaute kamen aus ihrem Mund.
Miss Peoples eilte ins Zimmer. »Verzeihen Sie, Dr. Hargrave. Wir wollten Ihnen gute Nacht sagen. Die Tür war offen. Ich wußte nicht, daß wir stören –«
»Jenny?« Samantha sah zu dem kleinen Mädchen hinunter, das ihren Kopf in ihre Röcke vergraben hatte. Behutsam streifte sie die Arme des Kindes von sich ab und kniete nieder, so daß sie mit Jenny auf Augenhöhe war. Sie war erschrocken über die Furcht in den dunklen Augen, über den bebenden Mund, das zuckende blasse Gesicht. »Jenny«, sagte sie wieder und strich ihr über das Haar.
»Was, zum Teufel?« fragte Warren nochmals.
»Sie dachte, Sie täten mir weh«, erklärte Samantha leise. Tränen schossen ihr in die Augen. »Sie hat also doch Gefühle! Ach, und sie versucht zu sprechen.«
Jenny machte unbeholfen mahlende Bewegungen mit dem Kiefer, starrte wie gebannt auf Samanthas Mund, während sie zu sprechen versuchte.
»Du brauchst auch die Stimme dazu, Jenny«, sagte Samantha. »Ach, Jenny, wie kann ich dich erreichen?« Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Lieber Gott, gib ihr eine Stimme.«
Jenny hob plötzlich die Hand und berührte Samanthas Wange. Mit einem Finger zeichnete sie die
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