Sturmjahre
Tränenspur nach, dann zog sie die Hand weg und zeichnete eine ähnliche Spur auf ihrem eigenen Gesicht.
»Sie möchte weinen«, sagte Samantha leise. »Ja, Jenny, weine.«
»Samantha!«
Sie sah auf. Warren blickte mit unbewegter Miene zu ihr und dem Kind hinunter.
»Ich glaube, es ist besser, Sie gehen, Warren«, sagte Samantha. »Jenny hat offensichtlich Angst vor Ihnen. Ich halte es für das Beste, wenn wir uns nicht wiedersehen.«
Er nickte kurz, zu stolz, um seine Empörung zu zeigen. Aber schon an der Tür war aus der Empörung Verärgerung geworden, und als er wenige {339} Minuten später in seinem Wagen davonfuhr, dachte er an sein Abendessen.
Samantha stand auf, bat Miss Peoples Tee zu machen und ging mit Jenny zum Kamin. Sie setzte sich, zog das Kind auf ihren Schoß und sah ihm liebevoll in das zuckende kleine Gesicht.
»Ach, mein Liebes«, murmelte sie. »Ich hatte doch recht, und alle anderen haben sich getäuscht. Du hast Gefühle, aber sie sind eingesperrt wie deine Stimme. Wie kann ich sie nur befreien? Wie kann ich dir helfen, aus deinem Käfig herauszukommen? Jenny, ach Jenny, wie kann ich dich erreichen?«
Jenny berührte mit den Fingerspitzen Samanthas Lippen, berührte dann ihren eigenen Mund. Samantha nahm die kleine Hand und legte sie an ihren Hals. »Da! Spürst du das? Du mußt Töne machen, Jenny. Du hast Stimmbänder. Du kannst sprechen.«
Jenny zwinkerte verwundert, dann zog sie ihre Hand weg und legte sie an ihren eigenen Hals. Ihre Lippen formten Laute, aber
es kam kein Ton.
»Jenny, das ist der Anfang. Du hast den ersten Schritt gemacht. Ach, wenn ich doch wüßte, wie ich dich weiterführen soll!«
Als es draußen läutete, glaubte Samantha, Warren wäre zurückgekommen. Da die Haushälterin in der Küche war, ging sie selbst zur Tür. Sie würde ihm mit aller Entschiedenheit sagen, daß seine Besuche nicht mehr erwünscht waren.
Aber nicht Warren stand vor der Tür, sondern ein junger Mann mit klatschnassem schulterlangem Haar, seine Reisetasche ebenso durchweicht wie der Anzug, der ihm um einiges zu klein war.
Er zwinkerte sich die Regentropfen aus den Augen und sagte verlegen: »Dr. Hargrave? Ich bin Adam Wolff von der Taubstummenschule.«
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Fünfter Teil
San Francisco, 1895
{342} 1
Nur mit Mühe die Tränen zurückhaltend, küßte Hilary jedes der Kinder auf die Stirn und übergab sie dann dem wartenden Kindermädchen. Merry, inzwischen elf Jahre alt, nahm den Kuß kühl entgegen, ohne die Liebkosung zu erwidern. Sie war bereits eine richtige junge Dame, und richtige junge Damen übten distanzierte Zurückhaltung, auch wenn es sie noch so drängte, sich in die Arme ihrer Mutter zu kuscheln. Eve hingegen, acht Jahre alt, umarmte ihre Mutter mit stürmischem Überschwang und drückte ihr einen feuchten Kuß auf die Wange. Julius, der nächste, gerade sieben, hielt es für würdevoller, seiner Mutter nur die Hand zu geben, aber dann ging doch das Gefühl mit ihm durch, und er schlang ihr so fest die Arme um den Hals, als wolle er sie nicht wieder loslassen.
Hilarys ungeweinte Tränen galten nicht diesen drei Kindern; sie waren ihr ganzer Stolz, sie hatte sie mit Freuden empfangen und geboren. Die nachfolgenden drei waren es, die sie nicht von Herzen annehmen konnte: die stille kleine Myrtle, deren Geburt nach einer beschwerlichen Schwangerschaft langwierig und qualvoll gewesen war; die vierjährige Peony, die gekommen war, obwohl Hilary nach Myrtles Geburt versucht hatte, die empfängnisfreien Tage zu beachten; und schließlich der zweijährige Cornelius, ein Schock für Hilary, die heimlich Verhütungsmittel genommen hatte.
Als die Kinder im Gänsemarsch hinausgingen, richtete sich Hilary auf und legte beide Hände auf ihren Bauch. Sechs Kinder in neun Jahren, dachte sie bitter. Und jetzt das siebente unterwegs …
»Vergessen Sie nicht, das Fläschchen zu sterilisieren, Griselda«, sagte sie zu der grauhaarigen Kinderfrau, die den Kleinsten auf den Arm nahm.
»Nein, Madam.« Griselda, seit vierzig Jahren in verschiedenen vornehmen Häusern als Kinderfrau tätig, hielt diese neumodische Marotte, alles zu sterilisieren, für albern, aber sie behielt ihre Meinung für sich.
Auf dem Weg durch die Halle blieb Hilary einen Moment stehen und lauschte auf die Stille des großen Hauses. Groll stieg in ihr auf, als sie daran dachte, daß Darius das Wochenende auf der Segeljacht eines Freundes verbrachte. Zum erstenmal in den fünfzehn Jahren ihrer Ehe
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