Sturmjahre
fraß Samantha fast auf. Sie hatte kaum noch Zeit für die Freundin. Ihr letztes gemeinsames Mittagessen bei
Chez Pierre
lag sechs Wochen zurück.
Hilary sah auf die Uhr neben ihrem Bett und überlegte, wo Samantha um diese Zeit sein würde – zu Haus vielleicht, aber wahrscheinlicher im Krankenhaus. Schon am Morgen hatte Hilary versucht, Samantha zu erreichen, aber vergeblich. Hilary war zu Dahlia Mason gefahren, aber die war, wie man ihr mitteilte, ausgeritten.
Hilary setzte sich vor ihren Toilettentisch und starrte ihr Spiegelbild an. Wie alt sie aussah! Sie fühlte sich sehr einsam.
{345} Aus einer Schublade ihrer Kommode nahm sie ein Schmuckkästchen, eine chinesische Lackarbeit, das, wenn man es aufklappte, ›Für Elise‹ spielte. Darin lag eine kleine Pappschachtel, die aussah, als enthielte sie irgendein wertloses kleines Spielzeug aus Chinatown. Hätte Darius zufällig in den Schmuckkasten hineingeschaut, er hätte dem Schächtelchen keinerlei Bedeutung beigemessen.
Tatsächlich enthielt es ein Instrument.
Samantha lehnte sich zurück und nahm die Brille ab. Sie fühlte sich an diesem Abend so schwer an. Aber sie wußte sehr wohl, was sie in Wirklichkeit beschwerte: der bevorstehende Prozeß gegen Willella Canby. Man warf Dr. Willella Canby vor, im Krankenhaus eine illegale Operation – eine Abtreibung – vorgenommen zu haben.
Als Samantha von ihrem Schreibtisch aufblickte, stellte sie überrascht fest, daß es draußen dunkel geworden war. Sie stand auf, um das elektrische Licht anzuknipsen, dann ging sie langsam zur Terrassentür.
Sie war fünfunddreißig Jahre alt, aber sie sah jünger aus und hatte noch viel von der etwas unsicheren jungen Frau, die vor dreizehn Jahren nach San Francisco gekommen war, um sich ihr eigenes Leben aufzubauen.
Vor der Terrassentür blieb Samantha stehen. Sie wünschte, sie hätte jetzt hinausgehen und einen Spaziergang machen können, aber die Gerichtsverhandlung gegen Willella war für den kommenden Tag angesetzt, und da mußte sie vorbereitet sein.
Willella war ängstlich und nervös, aber auch empört. Die Patientin hatte sie mit einem alten Trick hereingelegt: Sie hatte ein lebendes Huhn gekauft, ihm die Kehle durchgeschnitten und ein Tuch mit seinem Blut getränkt. Mit dem blutigen Tuch in der Unterwäsche war sie die Treppe zum Krankenhaus hinaufgetaumelt und hatte behauptet, eine Fehlgeburt zu haben. Man hatte das Mädchen, wie es dem normalen Verfahren entsprach, in den Operationssaal hinaufgebracht. Willella hatte operiert, wie es ihre ärztliche Pflicht war; aber strenggenommen hatte sie eine Abtreibung durchgeführt.
Es war still im Haus. Samantha sah auf die kleine Uhr an ihrem Handgelenk – ein Geschenk von Darius, für den jede moderne Neuheit einen besonderen Reiz hatte. Die Kinder mußten schon im Bett sein. Bei dem Gedanken lächelte Samantha. Sie mochte alt genug sein, um Jennys Mutter sein zu können, aber sie war ganz gewiß nicht alt genug, um die Adams sein zu können. Dennoch sah sie beide als ihre Kinder. Seit jenem regnerischen Heiligen Abend, als Adam durchnäßt und unsicher in ihr {346} Haus gekommen war, betrachtete sie ihn als ihren Sohn. Obwohl er nur sechs Jahre jünger war als sie.
Der Garten lockte zu sehr. Kurz entschlossen machte Samantha die Tür auf. Nur einen kleinen Rundgang wollte sie sich gönnen, ehe sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzte.
Das zweistöckige Haus in der Jackson Street in Pacific Heights war eine Zuflucht der Ruhe und des Friedens. Als Samantha damals, sieben Jahre war es her, auf Suche gegangen war, hatte sie eigentlich ein Haus in der Stadt nehmen wollen, in der Nähe des Krankenhauses und ihrer Freunde; ein Haus, das groß genug war, jedem seiner Bewohner eine gewisse Freiheit und Ungestörtheit bieten zu können. Sie wünschte sich eines mit Blick auf die Bucht und einem kleinen Garten. Genau ein solches Haus hatte sie beinahe auf Anhieb gefunden. Es stand auf einer Anhöhe, mit Blick auf die Marina, die Insel Alcatratz und Golden Gate. Samantha hatte unten neben Salon und Speisezimmer ihr Arbeitszimmer, das zum Garten hinausging, Adam und Jenny hatten oben jeder ein eigenes Zimmer, dazu einen Unterrichtsraum, und unter dem Dach war Platz für die beiden Dienstmädchen und Miss Peoples. Das Haus lag direkt an der Straße. Der Garten war jedoch hinter dem Haus, mit einem kleinen Pavillon.
Samantha ließ sich den Wind ins Gesicht wehen und atmete die frische, salzige Luft, während
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