Sturmjahre
sie werden sich öffnen, und zwar schon bald, da bin ich sicher.«
Sie seufzte. »Die neue Krankenpflege ist uns bei unserem Kampf leider keine Hilfe.«
Dies alles war Samantha nicht neu. Sie wußte, daß Florence Nightingales revolutionäre neue Art der Krankenpflege Frauen anlockte, die sonst vielleicht ernsthaft um einen Studienplatz an einer medizinischen Fakultät gekämpf hätten. Die Nightingale Schule am St. Thomas Krankenhaus bot alleinstehenden Frauen zum erstenmal eine reguläre Berufsausbildung, und das Experiment war gelungen, auch wenn es viele Widersacher und Kritiker hatte.
Samantha hatte Florence Nightingale persönlich kennengelernt. Elizabeth hatte sie im vergangenen Sommer einmal ins St. Thomas Krankenhaus am Albert Embankment mitgenommen, und dort hatte Samantha mit eigenen Augen gesehen, welche Demütigung und Beschämung es für viele Frauen bedeutete, sich von einem Mann untersuchen lassen zu müssen. Elizabeth hatte ihr bei dieser Gelegenheit erzählt, daß viele Frauen es vorzogen, zu Hause zu bleiben und zu versuchen, ihre weiblichen Leiden mit Hausmitteln zu kurieren.
Nach dem Besuch im Krankenhaus hatten sie der berühmten Frau selbst ihre Aufwartung gemacht. Leidend infolge der aufopfernden Arbeit, die sie auf der Krim geleistet hatte, war sie permanent ans Bett gefesselt, doch sie hatte ihre Freundin Elizabeth und deren Schützling wie eine Königin empfangen. Eine widersprüchliche Frau, fand Samantha: körperlich klein und zart, beseelt jedoch von ungeheurer Entschluß- und Willenskraft. Sie hatten den ganzen Nachmittag lebhaft über das Thema ›Frau in der Medizin‹ diskutiert, und Samantha hatte freimütig ihre Meinung dazu gesagt. Zum Abschied hatte Florence Nightingale ihnen einen Kuchen mitgegeben.
Elizabeth riß sich aus ihren Gedanken und sah Samantha an. »Du mußt dich bald entscheiden, Kind. Viel länger kannst du jetzt nicht mehr im Pensionat bleiben.«
Samantha seufzte. »Ich weiß ja, daß Amerika wahrscheinlich das Beste für mich wäre, aber es fällt mir so schwer, aus London wegzugehen.«
Elizabeth Blackwell hatte in Amerika Medizin studiert und war der Meinung, daß dies auch für Samantha die beste Möglichkeit wäre. Jetzt sah sie Samantha nachdenklich an. »Ist es ein Mann, der dich hier hält, Kind?«
Samantha riß erstaunt die Augen auf.
Elizabeth lachte. »Ich kenne diesen Blick, Samantha. Von meinem eige {91} nen Spiegelbild. Ich will dir etwas erzählen, worüber ich bis heute mit keinem Menschen gesprochen habe.« Sie kehrte zum Sofa zurück und setzte sich wieder. »In meiner Jugend hatte ich gar nicht den Wunsch, Ärztin zu werden. Mein Entschluß war nur vom Verstand diktiert, und ich traf ihn, weil ich genau wußte, daß ich mich für einen Mann restlos aufgeben würde, wenn ich mich nicht von Anfang an auf eigene Füße stellte. Ich habe diese Neigung früh bei mir entdeckt und erkannte, daß ich einen starken Schutz brauchte, wenn ich jemals eigenständig werden wollte. Darum beschloß ich ganz bewußt, auf Ehe und Familie zu verzichten und meine Erfüllung anderswo zu suchen. Und das Medizinstudium war eine gute Wahl, denn kein Mann will eine Ärztin zur Frau.«
»Ist das wirklich wahr?«
»In Amerika, diesem riesigen Land, gibt es nicht einmal fünfhundert Ärztinnen, und nur ganz wenige von ihnen sind verheiratet. Durchweg mit Ärzten.«
»Wie kommt denn das?«
»Unüberwindliches Vorurteil, Kind. Wir leben in einem Zeitalter männlicher Dominanz. Die Frauen sind eine Bedrohung für die Herrschaft der Männer. Warum die Männer vor uns Angst haben, kann ich nicht sagen; ich weiß nur, daß ich in den dreißig Jahren meiner Tätigkeit als Ärztin nicht einem einzigen Mann begegnet bin, bei dem sich diese Angst vor der Frau nicht in irgendeiner Form äußerte. Sie bekämpfen uns mit Spott, Samantha. Ein bekannter Chirurg sagte einmal, die Menschen auf der Welt seien in drei Gruppen eingeteilt: Männer, Frauen und Medizinerinnen. Um von ihnen überhaupt akzeptiert zu werden, muß man besser sein als sie. Aber wenn man sie dann überflügelt hat, wollen sie einen als Frau nicht mehr haben. Die Entscheidung, Ärztin zu werden, bedeutet, sich für ein Leben ohne Mann zu entscheiden, Samantha.«
Amalia Steptoe hatte größte Mühe, ihre Wut zu unterdrücken. Wie konnte dieser ungehobelte Bursche es wagen, hier einzudringen, um ihre Samantha zu entführen! Diese Anmaßung!
»Tja, wie ich schon sagte, Mr. Hawksbill«, erklärte sie
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