Sturmjahre
Gesicht sah, die winzig zusammengezogenen Pupillen, die seltsame Färbung der Lippen, vermutete einen anderen Grund hinter dem Ohnmachtsanfall.
Louisa stand auf und strich ihren Rock glatt. »Jetzt ist der Bann auf jeden Fall gebrochen. Es hat keinen Sinn, noch mal anzufangen.«
»Vielleicht nächste Woche«, meinte Naomi mit erregt blitzenden Augen.
»Ich würde zu gern wissen, wer dich erreichen wollte, Helen.«
Helen schüttelte schwach den Kopf. »Ich kenn überhaupt keine Toten …«
Samantha brachte Helen in ihr Zimmer und blieb an ihrem Bett sitzen, bis sie sich so weit erholt hatte, daß sie wieder aufstehen konnte. Dann {97} kochte Helen auf dem Spirituskocher Tee. »Sehr stark ist er nicht«, sagte sie schüchtern, »aber er reicht für zwei.«
Samantha machte es sich in dem einzigen Lehnstuhl, der im Zimmer stand, bequem.
»Das ist schon das zweitemal, daß ich diese Woche ohnmächtig geworden bin«, sagte Helen bedrückt und setzte sich aufs Bett. »Neulich wollte ich Bücher ins Regal stellen und plötzlich lag ich da. Mr. Grant, der Bibliothekar, war wütend.«
Samantha wartete stumm, während Helen nervös an ihrem Rock zupfte.
»Ich kann es mir nicht leisten, die Arbeit in der Bibliothek zu verlieren. Was anderes kann ich nicht. Ich bin froh, daß ich die Stellung bekommen habe. Es gibt viele Frauen in New York, die sofort zugreifen würden, wenn ich hinausfliege. Und zu meinem Vater zurück kann ich nicht. Er – er …« Sie senkte den Kopf.
Samantha trank einen Schluck Tee. Er war so dünn wie Spülwasser. Sie hätte gern eine Prise von ihrem eigenen Tee dazugegeben, aber das konnte sie aus Höflichkeit nicht tun.
»Ich habe nichts gespart«, murmelte Helen niedergeschlagen. »Ich bin erst seit drei Monaten in Manhattan. Wenn an den Büchern Schäden festgestellt werden, wird mir das von meinem Gehalt abgezogen. Ich muß immer anständig gekleidet sein, und du weißt ja, wie teuer das ist.«
Samantha betrachtete einen Moment lang das blasse, hoffnungslose Gesicht, dann fragte sie behutsam: »Was bedrückt dich denn, Helen?«
Helen starrte in ihre Tasse und schüttelte stumm den Kopf.
»Ich – ich glaube, ich bin krank«, sagte Helen schließlich leise und sah Samantha angstvoll an.
»Wie kommst du darauf?«
Helen errötete. »Ich – es–« Sie preßte die Lippen zusammen.
»Ist es eine Frauensache?« fragte Samantha.
Helen nickte. »Es hört nicht mehr auf«, flüsterte sie. »Es geht immer weiter.«
Samantha stellte ihre Tasse weg und setzte sich zu Helen aufs Bett. »Und wie lange geht das schon?«
»Zwei Wochen. Normalerweise dauert es höchstens vier Tage. Aber diesmal hört es einfach nicht auf.«
»Und was tust du dagegen?«
Helen beugte sich vor und holte hinter der Lampe, die auf ihrem Nachttisch stand, eine Flasche hervor. Samantha las das Etikett: ›Mrs. Lydia Pinkhams Gemüsemixtur‹.
{98} »Auf der Flasche steht«, erklärte Helen, »daß das gegen alle Frauenleiden hilft.«
»Wie lange nimmst du das schon?«
»Über eine Woche. Aber bis jetzt hat es noch nicht geholfen.«
Samantha stellte die Flasche weg. »Helen, du mußt zum Arzt gehen.«
»Nein!«rief sie so laut und nachdrücklich, daß Samantha sie erstaunt ansah. »Das könnte ich nicht ertragen. Ich meine, ein Mann – ich würde mich in Grund und Boden schämen …«
»Aber Ärzte sind doch keine gewöhnlichen Männer, Helen. Sie sind extra dafür ausgebildet –«
Helen schüttelte heftig den Kopf. »Das ist mir ganz gleich. Mann ist Mann. Ich kann nicht mit einem Mann über die intimsten Dinge –«
»Vielleicht kannst du dir eine Ärztin suchen, wenn es dir peinlich ist, mit einem Mann zu sprechen–«
Wieder schüttelte Helen den Kopf. »Einer Ärztin würde ich nicht vertrauen. Die meisten sind Pfuscherinnen.« Helen warf Samantha einen scheuen Blick zu. »Kannst
du
mir nicht helfen?« flüsterte sie.
»Ich? Ich bin keine Ärztin.« Samantha hatte den Mädchen in Mrs. Chathams Haus nicht erzählt, warum sie nach Amerika gekommen war. »Du brauchst fachliche Hilfe. Die Flasche da heilt dich bestimmt nicht.«
»Aber es steht doch auf dem Etikett.«
»Helen, Papier ist geduldig, das weißt du doch. Ein Etikett kann alles mögliche versprechen. Wenn du daran glaubst, machst du dir nur etwas vor.«
»Dann wird es schon von selber wieder gut werden. Es war wahrscheinlich nur die Anstrengung. Jeden Tag zwölf Stunden auf den Beinen und nur eine Viertelstunde Mittagspause. Dazu
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