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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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und Fäulnis, bedrückende Düsternis.
    Ganz unten, wo die Luft kaum noch zu atmen war und einzig flackernde Fackeln trübes Licht spendeten, blieb der letzte der Wärter endlich stehen. Sein alkoholgeschwängerter Atem schlug ihr ins Gesicht, als er sagte: »Einer, der zum Tod verurteilt ist, darf eigentlich keinen Besuch kriegen. Ich kann mir da ›n Hauf’n Ärger einhandeln.«
    Samantha griff in ihren Beutel und legte mehrere Shilling-Münzen in die schmutzige geöffnete Hand.
    »Fünf Minuten«, sagte er brummig und wandte sich ab.
    Vor sich sah sie die Gittertür einer Zelle. Dahinter gähnte undurchdringliche Finsternis. Vorsichtig, als nähere sie sich dem Käfig eines wilden Tieres, trat Samantha heran. Sie hörte eine schwere Kette klirren, dann erschien ein geisterhaftes Gesicht vor ihr.
    »Sam«, flüsterte James heiser. »Du bist wirklich gekommen.«
    Sie war wie betäubt. Konnte dieser heruntergekommene, bis zum Skelett abgemagerte Mensch wirklich ihr flotter, gutaussehender Bruder sein? Sie ging dicht an die Gittertür heran und streckte den Arm aus.
    »Tu das nicht«, sagte James leise, »sonst glaubt das Schwein da drüben, du willst mir etwas geben, und schmeißt dich raus. Wir haben nicht viel Zeit, und ich habe dir soviel zu sagen.«
    Er drückte das Gesicht an die Eisenstangen. Es war uralt.
    »Morgen werde ich gehängt, Sam.«
    {85} Es bereitete ihr Schwierigkeiten zu sprechen. »Was ist denn geschehen, James?«
    »Ich war auf einen Schluck im
Iron Lion,
da ging er plötzlich auf mich los, so ein bulliger Ire, der auf mein Mädchen scharf war. Ich hörte ihn wegen meines kaputten Ohrs nicht kommen und war so überrascht, daß ich mit aller Wucht zugeschlagen habe. Ich habe ihn so unglücklich getroffen, daß er auf der Stelle tot war. Ich schwöre es dir, Sam, wenn ich ihn gehört hätte, wäre ich vorsichtiger gewesen. Es war reine Notwehr, aber der Kerl hatte zu viele Freunde, und die haben alle gegen mich ausgesagt.«
    Samantha umklammerte die Stangen.
    »Du hast nie gehört, wovon ich taub geworden bin, nicht, Sam? Ich werd’s dir erzählen.«
    Stumm lauschte sie seinem leisen, emotionslos vorgetragenen Bericht von den Ereignissen am Abend ihrer Geburt. »Ist das nicht Ironie des Schicksals?« meinte er zum Schluß. »Was ich getan habe, um
dein
Leben zu retten, hat letztlich meines zerstört. Mein ganzes Leben war deinetwegen ein einziges Elend. Wegen meiner Taubheit konnte ich keinen Sport treiben, und in der Schule und an der Universität mußte ich doppelt so hart arbeiten wie alle anderen, weil ich in den Stunden und Vorlesungen immer nur die Hälfte mitbekam. Wenn die anderen ausgingen, hockte ich auf dem Zimmer und lernte. Manchmal habe ich mich gefragt, ob du das alles wert bist, Sam.«
    »Ach, James, das tut mir so leid«, hörte sie sich murmeln.
    »Wahrscheinlich konnte es gar nicht anders kommen. Von dem Abend an, als unsere Mutter starb, waren wir alle verloren. Du brauchst nur an Matthew zu denken, wo immer der jetzt sein mag. Was glaubst du, warum ich zu trinken anfing, als ich aus Oxford zurückkam? Warum ich mich so veränderte? Einzig Vaters wegen. Ich schuftete und lernte wie ein Verrückter, um nur ein kleines bißchen Anerkennung von ihm zu bekommen, ein kleines Zeichen nur, daß er mir mein eigenmächtiges Handeln am Abend deiner Geburt verziehen hatte, aber er hielt es nicht einmal für nötig, zu meiner Doktorfeier zu kommen. Da war’s bei mir aus, Sam. Zum Teufel mit ihm, sagte ich mir, ich will endlich auch mal was vom Leben haben.« James senkte den Kopf. »Er hat uns immer gehaßt, Sam, weil wir unsere Mutter getötet haben. Wir sind zum Verderben verurteilt. Das Urteil wurde vor siebzehn Jahren gesprochen, und meines wird morgen vollzogen. Aber glaub mir, Sam, auch du kommst an die Reihe.«
    Sie schloß die Augen. Ihr war, als wehte ein eiskalter Wind sie an.
    James hob den Kopf. Der Schmutz auf seinem Gesicht war von Tränen {86} spuren durchzogen. »Ich hab’ morgen früh eine Verabredung mit dem Sensenmann, Sam. Bete für mich.«
    »He, Sie da!« belferte es aus dem Schatten.
    Samantha drehte sich um.
    »Die Zeit ist um.« Der Wärter kam auf sie zu wie ein schwerfälliger Bär und schlug mit seinem Knüppel an die Eisenstangen.
    »Aber das waren doch keine fünf Minuten!«
    »Wenn ich sag’, es waren fünf Minuten, dann stimmt’s auch. Also, machen Sie, daß sie weiterkommen.«
    »Gib ihm noch etwas Geld, Sam«, rief James.
    »Aber ich habe keines

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