Sturmjahre
dramatisch.
Eines der Mädchen schnappte erschrocken nach Luft, und Samantha spürte, wie sich Naomis Finger fester um ihre Hand schlossen.
{95} »Wer ist da?« fragte Louisa mit hohler Stimme. »Wer ist zu uns gekommen? Gib uns ein Zeichen!«
Samanthas Herz klopfte schneller.
Erst vor zwei Tagen war sie mit der
Servia
in New York angekommen. Dank Elizabeth Blackwells Rat, zweiter Klasse zu reisen, waren ihr die demütigende Quarantäne und ›Desinfizierung‹, denen sich Einwanderer dritter Klasse unterziehen mußten, erspart geblieben. Das Billett hatte sie eine Menge Geld gekostet – beinahe die Hälfte des Erlöses aus dem Verkauf des Hauses am St. Agnes Crescent –, aber es hatte sich gelohnt. Nach einer flüchtigen Inspektion ihres Gepäcks und ihrer Papiere hatte Samantha New Yorker Boden betreten können. Doch auf der anderen Seite des Zauns hatte sie das Gewimmel der Einwanderer gesehen, die wie eine Viehherde vorangetrieben wurden. Das Quarantäneverfahren nahm, wie Samantha gehört hatte, Stunden in Anspruch, manchmal sogar Tage.
Von der Battery aus war Samantha in dieses Stadtviertel zwischen Greenwich Village und der Lower East Side gefahren, das Elizabeth Blackwell ihr als sauber und anständig, aber nicht teuer empfohlen hatte. Schon nach einem kurzen Spaziergang die Houston Street entlang war sie auf Mrs. Chathams Haus gestoßen und hatte das Schild im Fenster gesehen: ›Zimmer zu vermieten. Juden und Italiener unerwünscht‹.
Das zweistöckige typische New Yorker Stadthaus aus braunem Sandstein wurde von Mrs. Chatham, einer vollbusigen Witwe in den sechzigern, einem dreizehnjährigen Dienstmädchen von schlichtem Verstand und den fünf jungen Mieterinnen bewohnt. Samantha teilte sich ein Zimmer mit Louisa Binford, die in ihrem Alter war.
In der ersten Nacht hatte Samantha kaum geschlafen, obwohl sie todmüde gewesen war. Während sie dem Knacken der Heizkörper und dem Rattern der Hochbahn gelauscht hatte, hatte sie an zu Hause gedacht und Mühe gehabt, die Tränen des Heimwehs zurückzudrängen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen hatten sich die anderen Mädchen, alle in langen dunklen Röcken und hochgeschlossenen weißen Blusen, vorgestellt und waren dann aus dem Haus geflitzt, um rechtzeitig zu ihren Arbeitsstellen zu kommen. Samantha hatte sich in den Salon gesetzt und die New Yorker Zeitungen gelesen. Gegen Mittag hatte sie sich zu Fuß auf den Weg zum New York Infirmary gemacht, das, wie sich herausstellte, gar nicht weit weg in der Second Avenue war. Dort hatte sie für den folgenden Montag einen Gesprächstermin mit Dr. Emily Blackwell, Elizabeths Schwester, vereinbart.
»Wer bist du?« rief Louisa mit Grabesstimme. »Wessen Geist ist zu uns gekommen?«
{96} Es war mucksmäuschenstill im Speisezimmer. Lächerlich, dachte Samantha und umfaßte doch instinktiv Louisas Hand fester. Die Toten können nicht erweckt werden.
»Der Geist ist gekommen, um mit einer von uns zu sprechen. Er versucht, Kontakt aufzunehmen.«
Samantha atmete schneller.
Louisas Stimme wurde schrill. »Gib uns ein Zeichen, Gast aus dem Jenseits! Mit welcher von uns möchtest du in Verbindung treten?«
Samantha hörte ein leises Stöhnen. Sie neigte den Kopf nach rückwärts und öffnete ihre Augen einen Spalt. Auf der anderen Seite des Tisches sah sie ein schwaches Leuchten und schrie leise auf.
»Was ist?« rief Louisa, die sich auf ihrem Stuhl sachte hin und her wiegte. »Zu wem bist du gekommen? Sprich zu uns, Geist aus der anderen Welt –«
Eines der Mädchen schrie auf, dann folgte ein Krachen. Samantha riß die Augen auf und sah, daß Edith Wertz aufgesprungen war und sich zum Boden hinunterneigte.
Jetzt sprangen alle auf. Louisa zündete hastig die Gaslampen an, während Samantha um den Tisch herumrannte. Helen lag auf dem Boden, der umgestürzte Stuhl neben ihr. Ihr lockiges platinblondes Haar umgab ihren Kopf wie eine Wolke. Samantha wußte plötzlich, was für ein Leuchten das gewesen war, das sie gesehen hatte.
»Sie ist in Ohnmacht gefallen. Schnell, Mrs. Chathams Riechsalz.«
Ein paar Minuten später lag Helen ausgestreckt auf dem roten Samtsofa, und eines der Mädchen drückte ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Verwirrt blickte sie in die über sie geneigten Gesichter. »Was ist passiert?«
»Der Geist wollte mit dir in Verbindung treten«, erklärte Louisa, die auf der Sofakante saß. »Aber du warst nicht stark genug, um ihn einzulassen.«
Samantha, die Helens aschfahles
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