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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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mehr.«
    »Wenn Sie kein Geld haben, gibt’s auch keine Zeit.«
    »Bitte, Sir, nur noch eine Minute. Ich kann Ihnen nichts mehr geben.«
    Der Wärter grinste. »Wirklich nicht?« Sein Blick wanderte langsam an ihr hinab.
    »Lauf, Sam«, rief James. »Schnell! Lauf!«
    Sie wich vor dem Wärter zurück und rutschte auf dem glitschigen Boden aus. Er blieb vor James’ Zelle stehen, wippte auf seinen großen Füßen hin und her und lachte dröhnend. Samantha floh.
    Am nächsten Morgen suchte Samantha den Gefängnisdirektor auf und flehte ihn weinend an, ihr James’ Leiche freizugeben. Doch der Mann lehnte ab; James hatte bestimmt, daß seine Leiche der Universitätsklinik zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden solle. Ohne den Trost eines Begräbnisses kehrte Samantha in das leere Haus am St. Agnes Crescent zurück.

15
    Mrs. Steptoe, in Schwarz wie immer seit dem frühen Tod ihres Mannes, saß beim Tee im Salon und blickte sinnend in den strahlenden Maitag hinaus. Sie dachte an jenen Tag vor vier Jahren, als ein mageres kleines Mädchen mit langen Zöpfen aus Humphreys Einspänner gestiegen und mit großen verschreckten Augen auf sie zugegangen war. Damals hatte sie Samantha nicht gemocht, und wäre nicht Mr. Welby, der Rechtsanwalt der Familie Hargrave, so hartnäckig gewesen, sie hätte Samantha gar nicht im Pensionat aufgenommen. Sie war frech und unerzogen gewesen, kam aus übelsten Verhältnissen und war von niedrigster Herkunft. Doch in den vergangenen vier Jahren hatte sich Mrs. Steptoes negative Meinung über Samantha völlig gewandelt, und in der letzten Woche hatte eine glückliche {87} und bis in die Fingerspitzen wohlerzogene Samantha Hargrave ihre Bakkalaureatsurkunde in Empfang genommen.
    Kein Mädchen, dachte Mrs. Steptoe, war ihr je so ans Herz gewachsen wie Samantha, die ihr an jenem schicksalhaften Abend Beistand geleistet und sich rührend um sie gekümmert hatte, bis sie wieder ganz gesund gewesen war. Sie würde es Samantha nie vergessen, daß sie ihr Geheimnis niemals ausgeplaudert hatte. Doch die ganze Wahrheit dieses Geheimnisses kannte selbst Samantha nicht – daß sie sich, von Derry Newcastle zurückgewiesen, absichtlich die Treppe hinuntergestürzt hatte, um ihrem Leben ein Ende zu machen. Später, als sie ihre Gesundheit wiedergewonnen und ihr törichtes Handeln in der Rückschau betrachtet hatte, war Mrs. Steptoe Samantha unendlich dankbar dafür gewesen, daß sie der Ärztin bei ihren Bemühungen, ihr – Amalia Steptoes – Leben zu retten, so beherzt zur Seite gestanden hatte. Von diesem Tag an hatte sie Samantha in ihr Herz geschlossen, und jetzt graute ihr vor dem Augenblick, wo sie fortgehen würde.
    Aber Amalia Steptoe hatte einen Plan. Sie wußte von Samanthas Wunsch, Ärztin zu werden, aber sie glaubte, ihr diesen Wunsch ausreden zu können. Sie hatte schließlich beträchtlichen Einfluß auf das Mädchen, und sie wollte ihr ein Angebot machen, das sie gar nicht zurückweisen konnte: den Posten der Vorsteherin in Playdells Pensionat für junge Damen.
    Sie selbst würde mit Freuden zurücktreten, wenn dieser Verzicht Samantha zum Bleiben veranlassen würde. Und wie könnte Samantha wohl ein solches Angebot ausschlagen, eine Gelegenheit, wie sie sich einer Frau nur selten im Leben auftat! Amalia war sicher, daß sie ihre beruflichen Pläne ohne Zögern aufgeben und als Vorsteherin am Pensionat bleiben würde, um Seite an Seite mit ihrer Freundin Amalia Steptoe die Schule zu leiten.
    Es klopfte leise. Alice, das Mädchen, öffnete die Tür und sagte: »Mrs. Steptoe? Es ist jemand für Samantha Hargrave hier.«
    Amalie Steptoe stellte ihre Tasse nieder. »Wie bitte?« In den vier Jahren ihres Aufenthalts im Pensionat hatte Samantha nicht ein einzigesmal Besuch bekommen.
    »Es ist ein junger Mann, und er hat nach Miss Hargrave gefragt.«
    Amalia runzelte die Stirn. Samantha war für den Tag nach London gefahren, um Dr. Blackwell zu besuchen. »Führen Sie ihn herein, Alice.«
    Gleich darauf erschien er an der offenen Tür: ein großgewachsener, kräftiger junger Mann mit grobgeschnittenem, aber gutaussehendem {88} Gesicht und ungebärdigem kastanienbraunem Haar. Er trug die Uniform der Handelsmarine.
    »Bitte treten Sie näher«, sagte Amalia kühl.
    Mit seltsam schlingerndem Gang kam er auf sie zu.
    »Danke, Madam. Ich hätte gern Samantha gesprochen. Vielleicht sagen Sie ihr, daß Freddy hier ist.«

16
    »Ich kann mich einfach nicht entscheiden, Dr.

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