Sturmjahre
äußerlich ruhig. »Samantha hat das Pensionat vor einer Woche verlassen und keine Adresse hinterlassen.«
Freddy hockte auf der Kante des brokatbezogenen Sessels, als hätte er Angst, er könnte ihn beschmutzen.
»Und sie kommt auch nicht wieder her?«
»Wohl kaum, Mr. Hawksbill. Sie sprach von einer Reise nach Frankreich.«
{92} »Aber sie schreibt Ihnen doch bestimmt.«
Amalia Steptoe preßte die schmalen Lippen zu einer dünnen, harten Linie zusammen. Verschwinde endlich, du gräßlicher Kerl, dachte sie. »Es kann natürlich sein, daß sie schreibt.«
Freddy griff in seine Jackentasche und zog einen verschlossenen Briefumschlag heraus. »Wenn Sie von ihr hören sollten«, sagte er und reichte ihr den Umschlag, »würden Sie ihr dann diesen Brief zusenden? Ich hab’ ihr darin meine Adresse in London aufgeschrieben. Ich hab’ augenblicklich eine Arbeit am Hafen und bleibe sechs Monate. Sagen Sie ihr, daß ich auf sie warte.«
Amalia Steptoe nahm den Brief mit spitzen Fingern und stand auf. Freddy Hawksbill, der den Nachnamen des Mannes angenommen hatte, der ihm das Leben gerettet hatte, verstand das Signal und erhob sich ebenfalls. Grüßend legte er die Hand an die Stirn.
»Besten Dank, Madam. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.«
Nachdem er gegangen war, trat Amalia Steptoe zum Kamin und warf den Brief ins Feuer.
17
Der Wagen schwankte sachte, und der rhythmische Hufschlag des Pferdes wirkte einschläfernd, aber Samantha döste nicht vor sich hin, wie sie das sonst auf der Rückfahrt vom Bahnhof in Chislehurst immer tat. Sie war rastlos.
Sie mußte sich entscheiden. Wohin?
Stimmen dröhnten in ihrem Kopf. Freddy: ›Warte auf mich, Sam. Ich komm’ zurück und hol’ dich, das versprech’ ich dir.‹
Elizabeth Blackwell: ›Ich wollte auf eigenen Füßen stehen.‹
Und James: ›Wir sind zum Verderben verurteilt. Glaub mir, Sam, auch du kommst an die Reihe.‹
Sie drückte krampfhaft die Augen zu. Zum Verderben verurteilt … Ja, Vater, das könnte dir so passen, nicht wahr? Erst Matthew, dann James, jetzt ich. Dann hättest du deine Rache.
Aber du wirst sie nicht bekommen. Ich werde nicht untergehen. Ich werde meinen Weg machen und ohne Männerhilfe. Freddy ist fort, er hat mich vergessen. Ich werde meinen Weg allein gehen. In Amerika …
{93}
Zweiter Teil
New York, 1878
{94} 1
»Der Kreis muß fest geschlossen sein«, sagte Louisa mit ihrer rauchigen Stimme. »Und ihr dürft die Augen nicht aufmachen. Wir müssen uns konzentrieren. Wir müssen uns der Geisterwelt öffnen. Wir müssen alle aufnahmebereit sein. Konzentriert euch!«
Samantha widerstand tapfer der Versuchung, die Augen zu öffnen und sich umzuschauen. Sie wußte, was sie sehen würde. Fünf junge Frauen, die einander an den Händen haltend um den Speisetisch saßen, in dessen Mitte eine Kerze stand, die die Gesichter mit flackerndem Schein beleuchtete. Und dahinter Dunkelheit.
Vorher hatten sie in Mrs. Chathams gutbürgerlichem Salon gesessen, um an ihrem einzigen freien Abend in der Woche die Flickarbeiten zu erledigen, zu denen sie bisher nicht gekommen waren, Briefe zu schreiben oder gierig die neueste Ausgabe des
Illustrated Newspaper
zu verschlingen. Die fünf Mädchen hatten lange Arbeitszeiten, Louisa saß sogar vierzehn Stunden jeden Tag in ihrem Büro. Helen war in der Bibliothek beschäftigt; die Schwestern Wertz waren Verkäuferinnen in einem eleganten Geschäft in der Fifth Avenue; die rundliche Naomi lernte bei einer Putzmacherin; und die hübsche grünäugige Louisa hatte eine beneidenswerte Stellung als Tippmamsell bei der neuen Telefongesellschaft Bell.
Samantha spürte das Zucken von Louisas Hand, die in der ihren lag, und hörte Louisa im Singsang verkünden: »Ich fühle, wie die Grenzen sich auflösen. Die Geister nähern sich …«
Eine halbe Stunde zuvor hatte Louisa ihre Modezeitschrift gelangweilt weggeworfen und vorgeschlagen, eine spiritistische Sitzung zu halten. Erst im vergangenen Monat, erklärte sie Samantha, hätte die Gruppe den Geist der Heiligen Johanna beschworen. Louisas Enthusiasmus war so ansteckend gewesen, daß es Samantha nicht fertiggebracht hatte abzulehnen. Erst jetzt, wo sie in der Dunkelheit saß und Louisas beschwörenden Singsang hörte, gestand sie sich ein, daß sie überhaupt keine Lust hatte ausgerechnet jetzt, wo sie gerade in diesem neuen Land angekommen war, irgendwelche Toten herbeizuzitieren.
»Ich spüre das Fluidum eines Geistes!« rief Louisa
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