Sturmjahre
brauche ich noch eine Stunde für die Hin- und die Rückfahrt. Und der Pferdebus ist immer so voll, daß ich nie einen Platz kriege. Das muß einen ja krank machen.«
»Helen, es hilft dir nichts –«
»Zu einem Arzt gehe ich nicht, Samantha. Niemals!«
Louisa war schon im Bett und las begierig einen Liebesroman. Nachdem Samantha sich rasch gewaschen hatte, schlüpfte sie in ihr Nachthemd.
»Geht’s ihr wieder gut?« fragte Louisa und legte ihr Buch nieder.
Samantha kroch zwischen die kühlen, sauberen Leintücher. »Ja.«
Louisa musterte sie verstohlen. Ziemlich rätselhaft bis jetzt, diese Samantha Hargrave. »Hast du Heimweh?« fragte sie.
Samantha knüllte das Kissen unter ihrem Kopf zusammen und nickte. Aber das Heimweh war nicht das Schlimmste. Schlimmer war die Angst, {99} die ihre Zuversicht zu zerstören drohte; die Angst, daß sie es nicht schaffen würde. Sie war achtzehn Jahre alt, hatte nichts gelernt, war mutterseelenallein in einer wildfremden gigantischen Stadt und wußte, daß ihr Geld nur begrenzte Zeit reichen würde. Der Teufel mußte sie geritten haben, als sie beschlossen hatte, diesen Schritt zu wagen.
»Am Anfang geht es jedem so«, sagte Louisa ruhig. »Als ich vor einem Jahr aus Cincinnati hierher kam, habe ich einen Monat lang jede Nacht in mein Kissen geheult.«
Samantha drehte den Kopf, um sie anzusehen. Sie konnte sich kaum vorstellen, daß dieses lustige Mädchen mit den unternehmungslustig blitzenden grünen Augen vor irgend etwas Angst hatte.
»Aber nach einer Weile merkte ich, was für ein aufregendes Abenteuer es ist, ganz allein in einer großen Stadt zu leben«, fuhr Louisa ihrem Naturell getreu fort. »Kein strenger Vater, der dauernd die Augenbrauen hochzieht, keine ängstliche Mutter, die einem ständig Ermahnungen mitgibt.«
Samantha war bei ihrer Ankunft in Mrs. Chathams Haus tatsächlich erstaunt gewesen zu sehen, daß hier lauter junge Mädchen lebten, die sich auf durchaus rechtschaffene Weise ihren eigenen Lebensunterhalt verdienten und von keinem männlichen Wesen, sei es nun Vater, Bruder oder Ehemann, abhängig waren. In England, wo jede Frau, die allein lebte, entweder als alte Jungfer oder als zweifelhaftes Geschöpf abgetan wurde, wäre so etwas kaum möglich gewesen. Obwohl sich Samantha unter diesen jungen Frauen fehl am Platz fühlte, bewunderte sie ihre Entschlossenheit und ihren Willen zur Selbständigkeit.
»Aber New York ist natürlich nicht für jedes Mädchen der richtige Ort«, plauderte Louisa weiter. »Es gibt eine ganze Menge, die besser zu Hause geblieben wären.«
»Wieso?«
»Weil jungen Mädchen, die nicht vorsichtig sind, die schrecklichsten Dinge passieren. Das Geld geht ihnen schneller aus als sie berechnet haben, und ehe sie wissen, wie ihnen geschieht, landen sie in den schlimmsten Kreisen. Die
Police Gazette
ist voll von solchen traurigen Geschichten. Aber mir passiert so was nicht.« Sie warf den Kopf in den Nacken, daß die blonden Locken flogen. »Ich heirate mal einen reichen Mann und dann fahr ich im Vierspänner spazieren, mit seidenen Polstern von der gleichen Farbe wie mein Haar.« Sie lachte. »Warum bist du eigentlich nach New York gekommen?«
»Ich möchte hier studieren.«
»Was denn?«
{100} »Medizin.«
Einen Moment blieb es still, dann platzte Louisa heraus: »Das ist ja absolut hinreißend!«
Samantha sah sie verblüfft an.
»Hier tobt nämlich gerade ein erbitterter Kampf«, erklärte Louisa dramatisch. »Sie wollen die Harvard Universität zwingen, an der medizinischen Fakultät Frauen zuzulassen. Sämtliche Zeitungen sind voll davon. Himmel, da wirst du ja bald mittendrin sein.«
Samantha lächelte beinahe entschuldigend. »Ich habe nicht vor, mich bei Harvard zu bewerben. Ich möchte am New York Infirmary studieren.«
Louisa war sichtlich enttäuscht. »Ach so.«
»Warum sagst du das so?«
»Na ja, ich dachte, du wolltest eine richtige Ärztin werden.«
»Will ich ja auch.«
»Ja, aber die Absolventinnen vom Infirmary werden von vielen Leuten nicht als richtige Ärztinnen betrachtet. Wenn sie es rechtlich gesehen wahrscheinlich auch sind.«
»Das verstehe ich nicht.«
»In England ist es vielleicht anders, Samantha, aber hier in Amerika gibt es zwei Sorten von Ärzten: die richtigen Ärzte, und die, die sich so nennen. Weißt du, hier kann jeder sich Doktor nennen und ein schönes Messingschild an seine Tür kleben. Man braucht kein Diplom dazu. Jeder Gesundheitsapostel oder Quacksalber
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