Sturms Flug
ich zweimal in der Woche erlebe«, fuhr sie fort. »Dann besuche ich ihn nämlich für eine halbe Stunde.« Sie atmete tief ein. »Er kennt mich nicht mehr, und wenn der Arzt recht hat, wird er die nächste Woche nicht mehr erleben.«
»Das tut mir leid. Beides.« Er griff in seine Hemdtasche und förderte eine Zigarettenschachtel zutage.
»Hier herrscht Rauchverbot!«, schnappte sie.
»Na und! Willst du mich verhaften lassen?« Er zündete die Zigarette an, dann fragte er: »Auch eine?«
Obwohl sie in den letzten Monaten mindestens ein halbes Dutzend Versuche gestartet hatte, mit dem Rauchen aufzuhören, an diesem Morgen den jüngsten, griff sie zu. Schweigend schaute sie dem Qualm hinterher. Dann musterte sie ihren Bruder.
Der Schließer hatte nicht gelogen, als er behauptet hatte, Johannes Strasser sei ein Erzganove. Dessen war sie sich nur zu gut bewusst, und die Sache mit der Russenmafia, wegen der er jetzt im Gefängnis saß, war lediglich die Spitze des Eisbergs. Für seine kriminelle Ader hasste sie ihn, doch eigentlich war es eine Hassliebe, denn tief in ihrem Inneren glommen alte Gefühle, die einfach nicht erlöschen wollten.
Früher, als sie noch Kinder gewesen waren, hatte man sie die Unzertrennlichen genannt, da sie nicht voneinander gewichen waren. Jo hatte sich deswegen eine Menge Frotzeleien anhören müssen, denn ein Fünfundzwanzigjähriger, den man niemals auch nur für eine Sekunde ohne seine sechzehnjährige Schwester sieht, gilt unter seinesgleichen nicht gerade als das, was man cool nennt. Und noch uncooler ist er, wenn die Sechzehnjährige eine Zahnspange trägt, die aus so viel Draht besteht, dass man daraus bequem einen Vogelkäfig herstellen könnte. Trotzdem hatte Jo sie mit Stolz beschützt. Und sie war so verschossen gewesen in ihren großen, starken Bruder, dass sie sich vorgenommen hatte, ihn zu heiraten, wenn sie erst erwachsen war.
Gute Güte, das lag inzwischen eine Ewigkeit zurück! Mit achtzehn war sie schließlich zur Polizei gegangen, während er sich für die andere Seite des Gesetzes entschieden hatte. Dadurch war das Band der Verbundenheit, das sie über viele Jahre so unzertrennlich gemacht hatte, bis an die Zerreißgrenze gespannt worden. Und diese Hochspannung hielt bis zu diesem Tag an, auch wenn Jo geschworen hatte, nach seiner Entlassung sauber zu werden , wie er es nannte. Ähnliches hatte er in der Vergangenheit jedoch bereits dutzendfach beteuert, ohne es auch nur ein einziges Mal ernst zu meinen.
»Ich möchte dir etwas erzählen«, beendete sie das stille Rauchen. »Ich bin momentan völlig durch den Wind. Da ist etwas, das mich nachts nicht mehr schlafen lässt.« Gemeint war natürlich das Virus, das mit jedem Pulsschlag durch ihre Blutbahn tobte und von dem Jo noch nichts ahnte. Sicher, er war ein Schuft, doch in der Vergangenheit war er trotzdem immer für seine kleine Schwester da gewesen, wenn es wirklich sein musste. Sie war hergekommen in der Hoffnung, er würde sie in die Arme nehmen und ihren Kopf an die Brust drücken. Allein die Vorstellung war tröstlich.
Doch leider war der starke Bruder an diesem Tag eher auf Krawall gebürstet. »Du kannst nicht schlafen?«, ereiferte er sich. »Frag mich mal, wie ich momentan schlafe. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, eingesperrt zu sein? Nein, kannst du natürlich nicht! Hätte mich auch gewundert.«
»Was soll das denn bitte schön heißen?«
»Das soll heißen, dass du nach über zwei Monaten nicht einfach hier aufkreuzen kannst, um mir von deinen Wehwehchen zu erzählen. Was kann das schon Großartiges sein? Ich habe im Moment selbst genug Ärger am Bein. Vielleicht wäre es angebracht gewesen, mich zu fragen, wie es mir geht, bevor du mir die Ohren vollheulst.«
Für ein, zwei Sekunden war sie sprachlos. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als hätte jemand einen glühenden Schürhaken hineingetrieben. Dann gab sie gallig zurück: »Wenn ich mich nicht irre, hast du dich selbst in diesen Schlamassel geritten. Oder hat dich irgendjemand dazu gezwungen, mit Victor Smertin und seiner Russenbande …« Sie unterbrach sich, um übergangslos ein anderes Thema zur Sprache zu bringen. »Ich will dein Geld nicht!«
Er wusste sofort, dass damit die Beträge gemeint waren, die er über seinen Anwalt regelmäßig auf ihr Konto transferieren ließ. »Erzähl kein Blech. Natürlich willst du das Geld. Niemand hat etwas gegen ein dickes Bankkonto.«
»Ich schon.« Dann wiederholte sie mit Nachdruck: »Ich
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