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Sturmsegel

Sturmsegel

Titel: Sturmsegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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hatten.
    »Du darfst den Mast auf keinen Fall loslassen, hörst du?«, durchdrang Ingmars Stimme ihre Panik. »Die Strömung wird uns vielleicht an irgendeine Küste treiben, sei es die deutsche oder die dänische.«
    Anneke klapperte mit den Zähnen, schaffte es aber, zu nicken. Sie wollte zu Ingmar blicken, der sich ebenfalls an den Mast klammerte, doch ihr schmerzender Nacken hielt sie davon ab.
    Das Schiff sank immer schneller und der hohe Wellengang trieb den Mast mit seinen Passagieren von der Unglücksstelle fort.
    Anneke fror und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie keine Kraft mehr hatte, sich zu halten.
    Tjorven, dachte sie. Ich hätte sein Schiffchen nicht mitnehmen sollen. Jetzt holt er es sich zurück.
    Ihr Bewusstsein trübte sich nun und auch ein letztes Ächzen des versinkenden Schiffes konnte sie nicht wecken.
    Als das Meer Rumpf, Masten und Taue verschluckte, nahm eine Welle die letzten Geräusche, die an Annekes Ohr drangen, mit sich.
    *
    Die Zeit zerfloss im Meer und wurde bedeutungslos. Der Sturm tobte noch eine Weile, Blitze zuckten über den dunkelgrauen Himmel, dann wurde es mit einem Male still.
    Die Wellen trieben das Strandgut ans Ufer, zusammen mit toten Muscheln, Holz und Schlick. Anneke schwamm, noch immer an den Mast geklammert, zwischen ihnen und hatte einen seltsamen Traum.
    Ein Mann im schwarzen Mantel stand vor ihr, in der Hand einen Käfig, in dem Herzen pochten. Unter der Kapuze war sein Gesicht zunächst nicht zu erkennen.
    »Willst du mir dein Herz geben, so gebe ich dir dein Leben zurück«, sagte er mit einer seltsam dröhnenden Stimme.
    Anneke blickte ihn ängstlich an und fragte, ohne die Lippen zu bewegen: »Wem gehören die Herzen?«
    »Jenen, die dem Meer entrissen wurden.«
    »Aber ich kann dir mein Herz nicht geben«, antwortete sie. »Es gehört schon jemandem.«
    »Dann wirst du in den Wellen untergehen.«
    Die schwarze Gestalt hob die Hand, als wollte sie sie unter Wasser drücken, doch plötzlich erblickte Anneke ihre Mutter. Zusammen mit Susanna Svensson tauchte sie hinter der dunklen Gestalt mit ihrem Herzkäfig auf.
    »Nimm unsere Herzen und lass die unserer Kinder in Frieden«, sagte Susanna und streckte die Hand aus.
    Nun schlug die Gestalt seine Kapuze herunter und der Herzensammler offenbarte sein Gesicht.
    Es war Tjorven.
    Wie seine Entscheidung ausfiel, erfuhr Anneke nicht, denn die Dunkelheit griff erneut nach ihr und zerrte sie mit sich in die Tiefe.
    Wie viel Zeit verging, wusste Anneke nicht. Das Meer trieb ihren Körper ans Ufer, ohne dass sie es mitbekam. Algen, Holz und Reste eines Netzes gesellten sich ihr hinzu.
    Erst nach einer ganzen Weile kehrte ihr Bewusstsein zurück.
    Das Erste, was sie wahrnahm, war das Schlagen ihres eigenen Herzens. Dann spürte sie den Wind, der über ihr Gesicht strich, und nach und nach folgten die Geräusche: das Donnern der Brandung und das entfernte Rauschen von Bäumen.
    All diese Eindrücke zerrten ihren Verstand aus der tiefen Finsternis, in der er so lange verweilen musste.
    Anneke japste auf, hustete und spuckte nach Fisch schmeckendes Wasser aus. Nun gab auch die Erinnerung erste Bruchstücke preis.
    Da waren ein Schiff im Hafen von Stockholm, der Schriftzug Santa Lucia am Bug, eine riesige Welle, das Gesicht eines jungen Mannes. Ingmar! Dieser Name durchzuckte ihren Verstand wie ein Blitz. Und nun reihten sich immer mehr Erinnerungsfragmente aneinander. Sie waren auf einem Schiff nach Dänemark gewesen, als der Sturm über sie hereingebrochen war. Dann war alles rasend schnell gegangen.
    Ihre letzte Erinnerung war Ingmar, der ihr geraten hatte, sich gut an dem Mast festzuhalten. Dann verschwand wieder alles in der Dunkelheit.
    »Na sieh mal einer an, was ist das denn für ein nettes Strandgut«, sagte eine Männerstimme und schwere Schritte näherten sich.
    Anneke konnte ihre Augen noch immer nicht öffnen, aber sie registrierte, dass die Stimme nicht Ingmar gehörte.
    Schließlich wurde sie herumgedreht. Geschichten von brutalen Söldnern, vor denen ihre Mutter sie immer gewarnt hatte, kamen ihr wieder in den Sinn, als sie benommen die Augen öffnete. Doch sie war zu schwach, um aufzuspringen und davonzulaufen. Lediglich ihre Augenlider konnte sie nach einer Weile heben.
    Die Gestalt, die sich über sie beugte, wirkte zunächst als sei sie in Nebel gehüllt. Nach und nach schärften sich allerdings die Konturen und wurden zu einem rot-gelben Soldatenwams und einem Gesicht, das von zerzausten

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