Sturmsegel
»Dort wirst du deinen Vater nicht antreffen. Man hat ihn in den Kerker geworfen. Er soll mit den Kaiserlichen gehandelt haben.«
Die Nachricht traf Anneke wie ein Schlag. War es plötzlich strafbar, mit den Kaiserlichen zu handeln? Früher hatte man ihm das doch auch nicht vorgeworfen!
»Wegen des Handels kann man ihn doch nicht einsperren!«, gab sie fassungslos zurück.
»Er sitzt nicht wegen seiner Geschäfte hinter Gittern«, entgegnete die Nachbarin. »Der Rat glaubt, dass er Geheimnisse verraten hat.«
»Und wie kommen die Ratsherren darauf?«
»Nachdem Wallenstein abgezogen war, trug man ein paar verletzte kaiserliche Soldaten in die Stadt. Eigentlich wollten unsere Männer ihnen mit Sauspießen den Rest geben, aber Steinwich verhinderte das. Man brachte die Gefangenen in den Turm, wo er sie befragte. Dabei stellte sich heraus, dass Roland Martens ihnen verraten haben soll, an welchen Stellen die Befestigung schwach ist.«
Anneke schüttelte sprachlos den Kopf.
Bilder des Tages, an dem ihr Vater mit dem voll beladenen Karren heimgekehrt war, stiegen vor ihrem geistigen Auge auf. Die Waren stammten sicher von den Kaiserlichen. Hatte er sie für einen anderen Preis als für blanke Taler bekommen?
Vielleicht hatte er sie nach Schweden geschickt, weil er sicher war, dass Wallensteins Truppen durch die Stadtmauern dringen würden …
Doch diese Gedanken schob sie energisch beiseite.
Sie wollte einfach nicht glauben, dass ihr Vater vorgehabt hatte, Stralsund zu schaden! Woher hätte er über die Stadtbefestigungen Bescheid wissen sollen? Und wenn die Kaiserlichen dieses Wissen hatten, warum war es ihnen nicht gelungen, Stralsund einzunehmen?
Unruhe erfasste Anneke. Sie musste verhindern, dass man ihren Vater anklagte!
»Habt Dank für die Auskunft«, sagte sie zu der Nachbarin und wandte sich um.
Magda rief ihr noch etwas nach, doch sie hörte nicht darauf. So schnell sie konnte rannte sie die Kiebenhieberstraße hinauf und zum Marktplatz.
Was sollte sie tun? Den Rat aufsuchen? Ihren Vater im Kerker? Lambert Steinwich?
Vielleicht war alles nur ein Missverständnis. Sie musste Sanne oder Nettel fragen!
Auf dem Weg zum Kontor kam sie an der Jakobikirche vorbei. Deren Turm war von zahlreichen Kanonenkugeln getroffen worden, sodass er wie ein Stück Käse aussah. Offenbar hatte Wallenstein seine Kanoniere dazu angehalten, zuerst auf die Kirchtürme zu schießen.
Auch die Nachbarschaft hatte einiges abbekommen. Häuser waren beschädigt, Schuppen eingestürzt, Dächer verkohlt und Zäune umgerissen. Sogar im Straßenpflaster klaffte ein riesiger Einschlagskrater und noch immer wehte Brandgeruch durch die Gassen.
Das Kaufmannskontor hatte hingegen relativ wenige Schäden davongetragen. Doch sämtliche Türen und Fensterläden waren verriegelt. Weder Sanne noch Nettel schienen im Haus zu sein.
Nachdem Anneke eine Weile unschlüssig von einem Fuß auf den anderen getreten war, hämmerte sie an die Tür.
Nichts rührte sich.
»Da ist niemand mehr!«, rief ihr plötzlich jemand zu. Die Frau, die aus einem der Fenster des Nachbarhauses schaute, hatte Anneke schon eine Weile beobachtet.
»Die Knechte sind fort, die Frauen, die dort gelebt haben, auch und der Hausherr ist eingekerkert«, erklärte sie, als das Mädchen sich umwandte.
Dann war es also doch kein Missverständnis!
Anneke starrte die Nachbarin kurz an, dann lief sie wieder los.
Vielleicht wäre es klüger gewesen, zuerst zu Steinwich zu gehen, doch Anneke entschied sich, das Scharfrichterhaus aufzusuchen. Gewiss hatte man ihren Vater dort untergebracht. Er würde ihr die ganze Geschichte erzählen können.
*
Das Haus des Scharfrichters lag in der Papenstraße. Zu dem hohen Fachwerkbau gehörten ein Stall und eine hohe Ziegelmauer. Eine Eiche reckte daneben ihre mächtigen Äste in den Himmel.
Vor vielen Jahren hatte hier eine andere Fronerei gestanden. Ein Brand hatte sie zerstört. Beim Neubau wurde das Gebäude gleich erweitert, um mehr Gefangene verwahren zu können.
Da der Scharfrichter neben den Pflichten seines Berufsstandes auch der Abdecker der Stadt war, schwebte auch an diesem Spätnachmittag ein übler Geruch über seinem Anwesen.
Eine leichte Übelkeit befiel Anneke, als sie ein paar tote Hunde und ein totes Pferd erblickte. Fliegen umschwirrten die Kadaver, ein paar von ihnen stürzten sich sogleich auf sie. Anneke vertrieb sie so gut wie möglich und beeilte sich, zur Tür zu kommen.
»He, Mädchen, was treibst du dich
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