Sturmsegel
Marienfriedhof. Viele Gräber wirkten wüst, wahrscheinlich lebte niemand mehr, der sich um sie kümmern konnte.
Das Grab von Johanna Thießen war jedoch in einem erstaunlich guten Zustand. Efeu überwucherte nun den Hügel und am Kopf stand ein geschnitztes Holzkreuz, in das der Name feinsäuberlich eingebrannt war.
Ihr Vater musste es während ihrer Abwesenheit in Auftrag gegeben haben.
Anneke hockte sich neben den Hügel und strich mit der Hand über die Efeublätter. »Ich bin wieder da, Mutter«, wisperte sie. »Ich danke dir, dass du auf mich achtgegeben hast.«
Die Antwort war ein Rauschen in den Bäumen über ihr.
Andächtig blickte sie aufs Kreuz und berichtete ihrer Mutter, was in den vergangenen Wochen und Monaten geschehen war.
Als sie sich schließlich vom Grab löste und den Friedhof verließ, dunkelte es bereits.
Zurück bei ihrer Hütte erblickte sie Magda Fehrmann, die gerade dabei war, ihre Wäsche reinzuholen. Natürlich bemerkte die Nachbarin sie sofort, denn sie hatte selbst bei der Arbeit immer ein Auge auf die Straße.
»Nun, Mädchen, was hast du herausgefunden?«
»Nicht viel. Ich konnte leider nicht mit Lambert Steinwich sprechen, das Rathaus war bereits geschlossen.«
»Hast du denn deinen Vater im Scharfrichterhaus besucht?«
Anneke nickte und der Gedanke an die zerlumpte Gestalt ihres Vaters ließ ihr das Herz schwer werden.
Magda legte ihr die Hand um die Schulter. »Komm erst mal rein, du siehst ja ganz verhungert aus. Ich habe Grütze und Wurzeln gemacht, mehr, als ich selbst verdrücken kann. Ich würde mich freuen, wenn du mir Gesellschaft leisten würdest.«
Anneke nickte und folgte Magda dann ins Haus.
*
Am nächsten Tag erwachte Anneke spät. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und kitzelte sie durch die staubigen Fensterscheiben wach. Kurz erschrak sie, als sie sich in der ungewohnten Umgebung wiederfand, dann fiel ihr wieder ein, dass sie nach dem Abendessen bei Magda in die Hütte gegangen war, um dort zu schlafen.
Die Nachbarin hätte sie gern bei sich behalten, aber Anneke hatte darauf bestanden, in ihr eigenes Haus zu gehen. Sie wollte unbedingt an dem Ort sein, der sie an ihre Mutter erinnerte, ja, der vielleicht einen Teil ihrer Seele angenommen hatte.
Um ihr noch etwas Gutes zu tun hatte Magda ihr eines ihrer Kleider, die ihr zu klein geworden waren, mitgegeben, außerdem auch noch etwas Brot und Speck.
Während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb, richtete sie sich auf.
Heute werde ich meinen Vater aus dem Gefängnis holen, sagte sie sich und dieser Gedanke ließ ihre Glieder augenblicklich erstarken.
Nachdem sie sich gewaschen und das Kleid angezogen hatte, das ihr trotz allem ein gutes Stück zu groß war, aß sie den Brotkanten, den Magda ihr geschenkt hatte.
Anschließend verließ sie die Hütte und verriegelte die Tür.
Nachdem sie Magda, die im Garten nach Wurzeln grub, einen kurzen Morgengruß zugerufen hatte, machte sie sich auf den Weg in die Stadt.
Auch jetzt waren die Straßen nicht so belebt wie früher, aber das war Anneke nur recht, denn so konnte sie schneller zum Rathaus gelangen. Unterwegs kamen ihr einige schwedische Soldaten entgegengeritten. Da sie glaubten, dass sie sie nicht verstehen könnte, spotteten sie laut über ihr zu weites Kleid, doch daraus machte sich Anneke nichts. Es gab wichtigere Dinge als Kleider. Und es war ihr auch vollkommen egal, ob sie den Soldaten gefiel oder nicht. Ingmar würde sie auch in diesem Aufzug lieben, wenn sie ihn wiederfand! Auf dem Rathausplatz angekommen verharrte sie noch eine Weile vor dem mächtigen Gebäude, dann erklomm sie die Treppe und trat ein.
Anneke war noch nie im Rathaus gewesen und dementsprechend beeindruckt war sie vom Anblick der Eingangshalle. Ihre Schritte hallten laut über den Fußboden und der Geruch von Holz und feuchtem Backstein drang ihr in die Nase. Sonnenschein fiel durch die Fenster, malte helle Flecken auf den Boden und die Wände.
Ein paar Männer in dunklen Kleidern und mit Tellerkragen kamen ihr entgegen, schenkten ihr jedoch keine Beachtung.
Nachdem sie einen vorbeieilenden Schreiber gefragt hatte, wo sie den Bürgermeister finden konnte, trat sie wenig später vor die Tür seiner Schreibstube und klopfte.
Als er öffnete, erkannte sie Lambert Steinwich beinahe nicht wieder. Die anstrengenden Verhandlungen und die Belagerung hatten aus ihm einen hohlwangigen Mann gemacht, dessen Haar noch schütterer geworden zu sein schien.
Er blickte sie
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