Sturmsegel
hier rum?«, brummte plötzlich eine Männerstimme.
Als sie herumwirbelte, erblickte sie einen Henkersknecht. Er hatte seine Hemdsärmel hochgekrempelt und trug einen langen, fleckigen Lederschurz über seinen Kleidern. Darunter konnte man seine staubigen Stiefel erkennen.
»Ist dein Meister zugegen?«, fragte sie zurück, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Was willst du von ihm?« Die Augen des Henkersknechts verengten sich misstrauisch.
»Ich muss ihn sprechen. Wegen eines Gefangenen.«
Der Knecht musterte sie von Kopf bis Fuß und lächelte spöttisch.
Anneke fürchtete schon, dass sie ihm einige von Hinrichs Münzen zustecken musste, die sie eigentlich nicht ausgeben wollte. Doch da sagte der Mann: »Warte hier« und verschwand im Haus.
Anneke wäre am liebsten gleich mitgegangen, denn der Gestank der Kadaver wurde immer schlimmer.
Unbehaglich blickte sie sich um und entdeckte die vergitterten Fenster, hinter denen die Gefangenen eingeschlossen waren.
Sie atmeten die schlechte Luft Tag und Nacht. Echte Verbrecher hatten in Annekes Augen auch nichts anderes verdient – aber ihr Vater gehörte nicht dazu.
Plötzlich sprang eine Katze dicht vor ihr von der Mauer und ließ sie mit einem kurzen Aufschrei zurückweichen. Dabei trat sie auf etwas. Als sie herumwirbelte, blickte sie in das finstere Gesicht des Henkers. Unbemerkt war er hinter sie getreten und sie hatte seine Stiefelspitze erwischt.
»Himmel noch mal, pass doch auf, wo du hintrittst!«, fuhr er sie an.
»Verzeiht, Meister Rentzhusen«, entgegnete Anneke und wich einen Schritt zurück.
Carsten Rentzhusen überragte sie mindestens um zwei Köpfe. Sein Leinenhemd spannte sich über Oberarme, die vielleicht doppelt so dick wie ihre Oberschenkel waren. Er trug keine Schürze, dafür aber ein ledernes Wams, das mit einigen Flecken verunziert war. Sein braunes Haar kräuselte sich wild auf seinem Kopf, Bartstoppeln zierten sein Kinn.
»Sprich, was willst du hier?«, fragte er, während er abwartend die Arme vor der Brust verschränkte.
»Ich bin Anneke Martens«, entgegnete sie kühn und blickte dem Scharfrichter geradewegs in die Augen. Seine Erscheinung, sein Geruch und die wilden Geschichten über ihn schüchterten sie nicht ein.
Rentzhusen lächelte sie abschätzig an. »Kommst wegen deinem Vater, was? Dem Verräter …«
»Ich komme wegen meinem Vater«, entgegnete sie bestimmt. »Was die Anschuldigung angeht, solltet Ihr nicht urteilen, bevor es die Richter getan haben.«
Die Augen des Henkers wurden zu schmalen Schlitzen. »Auf den Mund gefallen bist du nicht. Solltest aufpassen, dass dich das nicht in Schwierigkeiten bringt.«
»Das soll nicht Eure Sorge sein«, entgegnete sie, und nachdem sie sich einen Moment lang böse angefunkelt hatten, setzte sie hinzu: »Was ist nun, darf ich zu ihm oder muss ich erst eine Erlaubnis vom Bürgermeister einholen?«
Ein spöttisches Lächeln trat auf das Gesicht des Scharfrichters. Es wirkte, als wollte er eine Gegenleistung für diesen Gefallen. Doch die würde Anneke ihm nicht geben.
»Komm mit«, sagte Rentzhusen schließlich. »Ich gebe dir zehn Minuten, dann verlässt du den Kerker wieder. Verstanden?«
Anneke nickte und beeilte sich dann, dem Henker in die Fronerei zu folgen. Sie hatte keine Ahnung, wie er die Zeit messen wollte, ebenso wenig wusste sie, ob die zehn Minuten ab jetzt galten. Sie war wohl ganz der Willkür des Henkers ausgeliefert. Aber zehn Minuten reichten gewiss, um in Erfahrung zu bringen, was wirklich geschehen war.
Sie durchschritten einen dunklen Gang und stiegen eine Treppe hinab. Das Fiepen von Ratten tönte aus den Ecken und die Luft war so stickig, dass man sie beinahe greifen konnte.
Die Gefangenen hausten in vergitterten Kellerlöchern. Vor einem von ihnen machten sie halt.
»Zehn Minuten!«, mahnte sie der Henker erneut, dann schlurfte er weiter den Gang entlang.
Anneke wartete, bis sie ihn nicht mehr hörte, dann flüsterte sie in das Dunkel der Zelle: »Vater, bist du da?«
Kettenklirren ertönte. Schließlich trat jemand an die Tür. Bevor sie die Person richtig sehen konnte, stach dem Mädchen deren Geruch in die Nase. Sie selbst roch nicht viel besser, trotzdem fiel es ihr sofort auf.
»Anneke?«, fragte es ungläubig aus der Schwärze heraus.
»Ja, ich bin's!«, antwortete sie freudig, denn es war tatsächlich die Stimme ihres Vaters.
»Du liebe Güte, wie kommst du denn hierher?«
»Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete sie. »Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher