Sturmsegel
verwundert an, konnte sich anscheinend nicht an sie erinnern.
»Was gibt es, Mädchen?«, fragte er ein wenig ungehalten.
»Ich bin Anneke Martens«, stellte sie sich vor. »Ich würde gern mit Euch über meinen Vater sprechen.«
Als sich Steinwichs Miene verfinsterte, sank Annekes Hoffnung. Dennoch hielt sie sich aufrecht und blickte dem Bürgermeister geradewegs in die Augen.
Steinwich schien zu überlegen, ob er sie wegschicken sollte. Doch dann sagte er: »Komm herein.«
Die Schreibstube des Bürgermeisters war recht schlicht eingerichtet. Auf einem Pult türmte sich Papier. Es roch nach Tinte und Siegelwachs, in einem kleinen Kamin rauchte ein Feuer mehr als es brannte. Ein paar angekohlte Federkiele lagen neben den Holzscheiten.
»Nun, was möchtest du besprechen?«, fragte Steinwich, während er neben dem Kamin stehen blieb und die Hände auf dem Rücken verschränkte.
Anneke wusste nicht so recht, wie sie beginnen sollte. Wie sprach man denn mit hohen Herren?
Da Steinwich sie abwartend musterte, sollte sie wohl besser beginnen. »Mein Vater ist wegen Verrats in Haft gebracht worden. Ich wollte um Gnade für ihn bitten. Er hat Stralsund niemals schaden wollen und er hat auch nichts verraten.«
Während sie sprach, senkte sich eine tiefe Falte zwischen seine Augen. »Woher willst du das wissen?«
»Mein Vater ist kein kaiserlicher Spion!«, entgegnete sie. »Warum hätte er den Menschen hier schaden sollen?«
»Wir haben die Aussage einiger kaiserlicher Soldaten«, hielt Steinwich dagegen.
»Und denen glaubt Ihr mehr als meinem Vater?«
Darauf wusste er zunächst keine Antwort. Er ging ein paar Schritte auf und ab, wobei die Dielen unter seinen Schuhen laut knarzten. Dann erklärte er ruhig: »Die Situation ist gespannt. Hass schwelt in den Menschen. Einige kaiserliche Soldaten wurden von aufgebrachten Stadtbewohnern beinahe totgeschlagen. Dein Vater sitzt zu seinem eigenen Schutz im Kerker.«
»Schutz?«, empörte sich Anneke. »Hättet Ihr der Behauptung, dass er ein Verräter sei, keinen Glauben geschenkt, wäre es nicht so weit gekommen!«
Steinwich schwieg einen Moment lang und sah sie beinahe mitleidig an, dann entgegnete er: »Tut mir leid, das Einzige, was ich tun kann, ist vor Gericht ein gutes Wort für ihn einzulegen. Ich persönlich schätze deinen Vater, aber das beweist nicht seine Unschuld. Und du wirst sie auch nicht beweisen können, stimmt's?«
Anneke ließ die Schultern sinken. Nein, das konnte sie nicht. Und im Moment blieb ihr auch nichts anderes übrig, als sich von Lambert Steinwich zu verabschieden.
Draußen vor dem Rathaus erschien ihr der Wind noch kälter als zuvor. Suchend schweifte ihr Blick über den Platz, doch denjenigen, dem er galt, konnte sie nicht ausmachen.
Was sollte sie nun tun? Wem sollte sie glauben?
Sie war nicht mehr sicher, ob sie ihrem Urteilsvermögen noch vertrauen konnte.
Plötzlich kam ihr eine Idee. Hinrich und Sönke hatten ihr angeboten, zu ihnen zu kommen, wenn es nötig war. Mit der Hilfe ihrer Halbbrüder konnte sie vielleicht seine Unschuld beweisen.
Jetzt musste sie sie nur noch ausfindig machen.
*
Anneke war unwohl dabei, allein zum Lager der Deserteure zu gehen, besonders jetzt, wo die Dunkelheit hereinbrach.
Ihre Halbbrüder gehörten zwar zu ihnen, aber was war, wenn sie Wachposten im Wald verteilt hatten, die sie schon unterwegs schnappen würden? Sie konnte nicht behaupten, dass die anderen Männer vertrauenserweckend ausgesehen hatten.
Das Meer rauschte sanft neben ihr, vermochte aber nicht sie zu beruhigen. Unwillkürlich richtete sie ihren Blick auf den Strand, in der Hoffnung, dort Ingmar zu finden. Doch sie sah nichts als Treibholz und angeschwemmte Algen.
Schließlich strebte sie dem Wald zu.
Noch nie war sie zu dieser Zeit allein dort gewesen. Sobald sie in die Dunkelheit eingetaucht war, wurde sie von einem seltsamen Rascheln umgeben. Dazwischen ertönten Laute, von denen sie nur einige erkennen konnte. Das leise Fiepen von Vogeljungen, die gefüttert werden wollten. Das Bellen von Fuchswelpen, die sich im Unterholz balgten. Und das Pochen ihres Herzens, das ihr in der Stille überlaut erschien.
Sönke hatte nicht genau beschrieben, wo sich ihr Lager befand. Nachdem sie eine Weile umhergeirrt war, glaubte sie schon, sich verirrt zu haben. Die Dunkelheit zog sich immer mehr über ihr zusammen, ungewohnt nach den hellen Nächten, die sie in Stockholm erlebt hatte. Angst breitete sich immer weiter in ihr aus.
Doch
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