Sturmsegel
ihr nicht gleich wie ein kleiner Junge entgegenzustürmen. Als die beiden Männer bei ihr angekommen waren, machte Anneke einen Knicks und begrüßte sie.
»Ah, das Mädchen aus Stralsund«, sagte Hendrick Svensson, während er sich zu einem Lächeln zwang. »Ingmar hat mir erzählt, dass du dir das Auslaufen der Vasa mit uns ansehen möchtest.«
Anneke nickte. Zwar war es Ingmar gewesen, der sie gefragt hatte, aber das war nicht wichtig.
»Schön, dann komm mit«, sagte er und schritt voran durch die Menschenmenge.
»Vielleicht werden wir heute ein paar berühmte Persönlichkeiten der Stadt zu Gesicht bekommen«, flüsterte Ingmar Anneke zu, als sie sich dem Platz näherten, an dem sich die Schiffsbauer und ihre Angehörigen sammelten, um geschlossen zum Kai zu gehen. Für sie war es ein besonders bedeutender Tag, denn nun würde sich zeigen, wie seetüchtig die Vasa war. Wenn das Schiff erst einmal hinter dem Horizont verschwunden war, würden sie und ihre Arbeitgeber, die Hybertssons, wie Helden gefeiert werden.
»Und wer könnte das sein?«
»Auf jeden Fall der legendäre Kapitän Jonsson, der schon seit dreißig Jahren Kriegsschiffe erfolgreich in die Schlacht führt. Und der Generalfeldzeugmeister Kremer wird auch da sein. Außerdem heißt es, dass die Seeleute für diese Fahrt ihre Frauen und Kinder mit an Bord nehmen dürfen, wenn sie wollen.«
»Aber heißt es nicht …«
»Dass Frauen Unglück bringen, wenn sie auf einem Schiff sind?«, vervollständige Ingmar ihren Satz und schüttelte dann lachend den Kopf. »Du bist doch auf einem Schiff hergekommen, oder? Und es ist nicht gesunken.«
»Aber ich hatte Jungenkleider an.« Wieder dachte sie an Tjorven und ihre Ausrede. Aber warum kümmerte sie das noch?
»Das tut nichts zur Sache«, gab Ingmar zurück. »Wenn Neptun etwas gegen Frauen auf Schiffen hätte, hätte er auch dein Schiff in Schwierigkeiten gebracht. Dem war doch nicht so, oder?«
Anneke dachte an den Sturm und das raue Wetter zurück. Aber das Schiff war nie in wirkliche Bedrängnis geraten.
»Und warum glauben die Seeleute das dann?«
»Weil sie lange unterwegs sind und nur in den Häfen Frauen zu Gesicht bekommen«, wandte nun Hendrick Svensson ein, der ihre Unterhaltung mit angehört hatte. Es waren die ersten zusammenhängenden Sätze seit Langem. »Wenn eine Frau auf dem Schiff wäre, würden sich die Seeleute die Köpfe wegen ihr einschlagen und ihre Pflichten vernachlässigen. Also verbieten die meisten Kapitäne Frauen an Bord zu kommen.«
»Und warum dürfen dann Frauen auf der Vasa sein?«
»Nur bei der Jungfernfahrt. Das Schiff fährt einen Bogen um Kastellholmen, dann kehrt es wieder zum Hafen zurück, um die Honoratioren und die Familien der Seeleute abzusetzen.«
Und zwischen all diesen Leuten ist vielleicht Tjorven, dachte Anneke und hoffte, dass ihm das Schiff Glück bringen würde.
Der Hafen war an diesem Nachmittag prachtvoll geschmückt. Noch nie zuvor hatte Anneke so viele Menschen unterschiedlichen Standes auf einem Platz gesehen.
Neben Kaufleuten und reichen Bürgern standen Arbeiter und Bauern, die gewiss einen ziemlich weiten Weg hinter sich hatten, um das Schiff zu sehen. Sogar ein paar Bettler hatten sich eingefunden und seltsamerweise murrte niemand darüber, dass sie sich zwischen die anderen Menschen drängten.
Die unterschiedlichsten Gerüche schienen über dem Platz zu schweben. Stallgeruch mischte sich mit zartem Parfüm, Schweißgeruch mit dem Duft von Kernseife. Über allem lag der Geruch von Seewasser und Schlick und im Vorbeigehen nahm Anneke einen Hauch des Zuckerzeugs wahr, an dem die Damen und Mädchen knabberten.
Sie selbst hätte jetzt auch nichts gegen kandierte Veilchen oder türkischen Honig gehabt, aber sie konnte in der Menge keinen Händler entdecken. Und selbst wenn, hätte sie ihn nicht erreichen können. Die Menschen drängten sich einfach zu dicht, und als sie sich umsah, erblickte sie weitere Schaulustige, die sehen wollten, wie die Vasa zu ihrer ersten Fahrt aufbrach.
»Hoffentlich bekommen wir das Schiff auch zu sehen«, bemerkte sie, während sie sich auf die Zehenspitzen stellte.
»Das werden wir«, entgegnete Ingmar. »Und sollte sich jemand Großes vor dich stellen, hebe ich dich einfach auf meine Schultern.«
»Ich glaube nicht, dass das schicklich wäre!«, wandte Anneke lächelnd ein.
Ingmar winkte ab. »In dem Moment, wo das Schiff hier entlangsegelt, werden die Menschen sowieso keinen Blick mehr für etwas
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