Sturmsegel
schließlich und vertrieb damit ihre angstvollen Gedanken. Zunächst konnte sie nur den Federhut des Schiffsbauers ausmachen, dann tauchte er vor ihnen auf.
»Endlich finde ich euch!«, rief er aus.
»Wir wollten sehen, wie das Schiff …« Ingmar unterbrach sich und senkte den Kopf.
Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Soweit ich gehört habe, konnten sich ein paar Leute auf die Beiboote retten. Andere sind zum Skeppsholm geschwommen. Gottlob sind nicht alle mit der Vasa untergegangen.«
Aber dennoch zu viele, schienen seine Augen stumm hinzuzufügen.
»Bring das Mädchen zurück und geh dann nach Hause. Ich werde mich noch ein wenig umhören. Wenn die Boote hier ankommen, wird das Gedränge noch größer werden.«
»Ja, Vater«, antwortete Ingmar, und Anneke konnte ihm ansehen, dass er seinen Vater am liebsten gebeten hätte, nach Hause mitzukommen. Ganz so leicht schien er die Drohungen doch nicht zu nehmen.
Aber Hendrick Svensson hätte sich gewiss nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen.
Während er wieder in der Menge verschwand, strebten Anneke und Ingmar der Schenke zu.
Inzwischen waren auch jene Stockholmer vor die Tür gelaufen, die sich bisher nicht für das Spektakel interessiert hatten. Wie alle Nachrichten von Katastrophen verbreitete sich auch diese in Windeseile.
Ein lauter und verzweifelter Schrei ganz in ihrer Nähe ließ Anneke herumwirbeln. Sie hätte mit allem gerechnet, aber nicht mit Frieda Bollerstrue, die auf dem Boden kniete und Menschen, die sie trösten wollten, wegstieß.
Der erste Gedanke, der Anneke in den Sinn kam, war der, dass sie vielleicht Ladung oder finanzielle Beteiligung eingebüßt hatte. Dann schämte sie sich dafür, denn so, wie sie an ihren Haaren zog und ihr Gesicht verzerrt war, musste es wohl um ein Menschenleben gehen.
War vielleicht Magdalena auf dem Schiff gewesen? Oder der zukünftige Schwiegersohn? Vielleicht beide?
Anneke verspürte auf einmal so etwas wie Mitleid mit ihr – und das Verlangen, nachzufragen, was geschehen war. Dennoch war sie dankbar, dass Ingmars Hand sie weiterzog. Sie war wahrscheinlich die Letzte, die Frieda Bollerstrue in diesem Augenblick sehen wollte.
*
In dieser Nacht träumte Anneke, mit Tjorven auf das Schiff gegangen zu sein. Als das Schiff sank, befanden sie sich beide an der tiefsten Stelle des Decks, doch eigentlich hätten sie gar nicht dort sein sollen. Plötzlich brach das Wasser herein, es kam von allen Seiten und umzingelte sie. Anneke packte den Jungen bei der Hand und versuchte, ihn zu der einzigen Tür zu ziehen, die es gab. Doch das Wasser war schneller. Es schwappte gegen ihre Körper, stieg rasch daran hinauf und verlangsamte ihre Bewegungen so sehr, dass die Tür mit einem Mal unterreichbar schien. Tjorven wandte sich ihr nun zu und wollte etwas sagen, doch sie konnte seine Lippenbewegungen nicht entschlüsseln. Seine Hände konnte er nicht benutzen, weil er sie brauchte, um sich über Wasser zu halten.
Anneke versuchte zu schwimmen, doch die Wassermassen lasteten schwer auf ihr – bis sie über ihr zusammenschlugen …
Nach Luft schnappend fuhr sie auf und blickte in das Halbdunkel ihrer Kammer. Kein Wasser, auch kein Tjorven. War dieser Traum eine böse Ahnung?
Zitternd legte sie sich wieder auf den Strohsack zurück und griff nach dem kleinen Holzschiffchen.
Kann es sein, dass manchen Menschen nur Unglück in ihrem Leben beschieden ist?, fragte sie sich, während sie die Segel des Schiffs betrachtete.
Natürlich hoffte sie insgeheim, dass Tjorven irgendwie davongekommen war. Dass er in klammen Kleidern vor der Schenke auftauchen und ihr berichten würde, was sich auf dem Schiff abgespielt hatte.
Doch ein Gefühl sagte ihr, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Und obwohl man kaum behaupten konnte, dass Freundschaft sie beide verbunden hatte, weinte sie um den Jungen und über die Ungerechtigkeit des Lebens.
*
Einen Tag später wurde die vorläufige Totenliste bekannt gegeben. Ratsdiener trugen sie durch die Straßen, riefen sie auf den Marktplätzen aus und befestigten sie an Orten, an denen die Menschen zusammenströmten.
Bei ihrer Heimkehr vom Markt klagte Gitta darüber, dass es kaum ein Durchkommen zum Brunnen gegeben habe, so dicht hätten sich die Menschen dort gedrängt.
Bisher ging der Stadthauptmann davon aus, dass es hundertfünfzig Tote gegeben hatte. Bis jetzt seien etwa siebzig Leichen geborgen worden. Gitta, die selbst nicht lesen konnte, hatte dies mitgehört,
Weitere Kostenlose Bücher