Sturmsegel
Mund.
Dann, ohne eine Erklärung abzugeben, zerrte er sie weiter. Sie liefen noch ein Stück und schließlich waren sie dem Schiff so nahe, dass auch Anneke erkennen konnte, dass die Segel vollständig zur Seite kippten.
»Sie sinkt!«, rief Ingmar entsetzt aus.
Noch nie hatte Anneke so viel Schrecken auf seinem Gesicht gesehen. Und auch ihr Gesicht spiegelte dieses Entsetzen, als ihr klar wurde, dass sich das Schiff nicht wieder aufrichten würde. In Sekundenschnelle versank ein Teil des Rumpfes im Wasser, dann tauchte das erste Segel ein.
»Oh mein Gott«, presste nun auch sie hervor und verbarg ihr Gesicht mit zusammengekniffenen Augen an seiner Brust.
Tjorven, dachte sie voll Verzweiflung. Hoffentlich kann er schwimmen und hat Gelegenheit, aus dem Schiffsrumpf zu kommen.
Insgeheim wünschte sie sich, dass sie sich nicht von den anderen entfernt hätten. Das Schicksal des Schiffes wäre zwar dasselbe, aber sie hätten es nicht so deutlich mitbekommen.
Ingmar hielt sie und starrte weiterhin auf die sinkende Vasa. Schreie waren nicht zu vernehmen, nur die Rufe der Möwen, die über den Hafen hinwegzogen. Selbst sie schienen nicht fassen zu können, was da geschah.
Als sich Anneke schließlich von ihm löste und einen Blick wagte, waren auch die Segel verschwunden.
*
Furcht und Fassungslosigkeit legten sich wie ein Glassturz über Stockholm. Die Menschen drängten sich am Hafen, viele in Furcht um ihre Angehörigen. Alle hofften, dass Überlebende geborgen werden konnten. Der Sund war voller Boote, die der Unfallstelle zustrebten.
Viele Menschen versuchten sich schwimmend über Wasser zu halten, andere klammerten sich an Ladungsteile, die sich losgerissen hatten und an der Wasseroberfläche schwammen.
Ingmar wollte selbst hinausfahren, um Menschen zu bergen, aber er kam zu spät, sodass keine Boote mehr übrig waren. So mussten Anneke und er vom Ufer aus die Bemühungen zur Rettung verfolgen.
»Was meinst du, wie viele es überstanden haben?«, fragte Anneke, während sie ihren Blick wie gebannt auf das Wasser und die Booten richtete. Wenn sie an Tjorven dachte, war es als läge eine Klammer um ihr Herz. Wie viele Menschen würden heute um ihre Angehörigen weinen?
»Du fragst, als meintest du jemand Bestimmten auf dem Schiff«, gab Ingmar zurück.
Anneke nickte. »Der Stiefsohn des Wirtes wollte dort anheuern.« Das Grauen drängte den Rest der Worte in ihre Kehle zurück.
»Ich fürchte …«, begann Ingmar, dann schien seine Stimme ebenfalls zu versagen. Anneke wollte nicht nachfragen, was er fürchtete. Schließlich fand er doch die Worte: »Ich fürchte, dass die meisten Frauen und Kinder umgekommen sind. Seeleute können schwimmen, und jene, die auf dem Oberdeck waren, werden gewiss das Ufer erreicht haben, wenn sie der Sog des Schiffes nicht mitgerissen hat. Doch all jene, die unter Deck waren, werden ihr Grab auf dem Meeresboden finden.«
Stille folgte seinen Worten. Nicht einmal die Menschen ringsherum sagten etwas. Sie hatten ihn wohl gehört und waren trotz aller Hoffnungen auf ein Wunder der gleichen Ansicht wie Ingmar.
Tjorven, dachte Anneke wieder, doch der Rest dieses Gedankens wurde vom Pochen ihres Herzens zerstreut.
»Wir sollten Vater suchen gehen«, sagte Ingmar schließlich. »Wahrscheinlich wird er sich schon Sorgen machen, wo wir abgeblieben sind.«
Was wird Hendrick Svensson wohl im Moment denken, was fühlen?, fragte sich Anneke, während sie Ingmar durch die Menschenmenge folgte. Dieses Schiff war sein Rettungsanker nach Susannas Tod gewesen. Und jetzt war es ebenfalls fort.
Es war nicht einfach, den Schiffsbauer in der Menge auszumachen. Während die meisten Menschen einfach nur schockiert waren, wurden bereits jetzt die ersten Stimmen laut, die Strafen forderten. Ein Tumult schien sich zusammenzubrauen.
Anneke verstand nicht alles, was gesprochen wurde, aber die Stimmung, die unter den Menschen herrschte, beunruhigte sie.
»Mach dir nichts aus ihren Reden«, versuchte Ingmar sie zu beruhigen. »Sie wissen nur nicht, wohin sie mit ihrer Fassungslosigkeit sollen. Der Ruf nach Strafe ist das Einzige, was ihnen zunächst einfällt.«
Doch Annekes Unwohlsein blieb. Was war, wenn die Menschen zu Svenssons Haus kamen und mit Steinen auf die Fenster warfen? Etwas Ähnliches hatte sie einmal in Stralsund beobachtet, als gemunkelt worden war, eine Frau sei eine Hexe. Auch da waren Steine und Mist geflogen, bis die Stadtwache einschritt.
»Da ist er!«, rief Ingmar
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