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Sturmsegel

Sturmsegel

Titel: Sturmsegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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Augen.
    Anneke schüttelte den Kopf. Ihr Herz flatterte bei dem Gedanken, dass er sie jetzt vielleicht berühren würde.
    »Es ist so wie jetzt, wo wir beide hier sind, nicht mal eine Handbreit voneinander entfernt«, beantwortete er ihre Frage, während er versonnen über ihr Haarband strich.
    Dann beugte er sich vor. Anneke ahnte, was nun kommen würde, und obwohl ihr Gewissen sagte, dass es nicht schicklich war, hielt sie still und spürte nur einen Herzschlag später seine Lippen auf ihrem Mund.
    Zunächst schoss ihr die Frage durch den Kopf, was passieren würde, wenn sie jemand hier sah, doch Zweifel und Ängste lösten sich auf und wurden vom Wind davongetragen.
    Sein Kuss war zart wie ein Hauch, wärmend wie eine Kerzenflamme und süß wie ein Stück Konfekt. Ihre Lippen schmiegten sich aneinander, als wären sie nur dafür gemacht, und als sie sich schließlich voneinander lösten, hielt Anneke noch lange die Augen geschlossen, um die Erinnerung an das Gefühl nicht zu verlieren.
    »Na, glaubst du mir jetzt, dass sich die Liebe so anfühlt?«, fragte er, und als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie, dass sein Lächeln immer noch da war.
    »Ich weiß nicht«, gab sie zurück. »Ich denke, dass da noch mehr sein muss.«
    »Und was?«
    »Das weiß ich nicht. Irgendwas, das einen Mann dazu bringt, auch noch nach zwanzig Jahren ein Schiff für seine Frau zu bauen. Und eine Frau, ihn auch nach zwanzig Jahren so verliebt anzuschauen, als hätte sie ihn gerade zum ersten Mal getroffen und erkannt, dass er der Richtige für sie ist.«
    »Lass es uns herausfinden.« Damit zog er sie weiter zur Brücke, wo sie schließlich stehen blieben, auf die Möwen blickten, die über die Dächer hinwegzogen und die Spatzen ignorierten, die sie necken wollten.
    *
    Wie lange durfte ein Moment Glück dauern? War es vermessen, wenn man sich immer mehr davon ersehnte?
    Das fragte sich Anneke, als sie in die Dunkelheit der Schenke eintauchte. In der Küche hörte sie Gitta werkeln, im Obergeschoss war alles ruhig. Ob Magnus da war, wusste sie nicht.
    Auf einem der Tische lag ein Blatt Papier. Da es nicht so aussah, als sei es für jemand Speziellen bestimmt, warf Anneke einen Blick darauf.
    Wie sie feststellen musste, war es eine Abschrift der Totenliste. Einer neueren Ausgabe, wie das Datum zeigte. Da sie kein königliches Siegel trug, handelte es sich nicht um ein Original. Irgendwer musste sie kopiert haben. Vielleicht Magnus? Sie wusste nicht, ob er das überhaupt konnte.
    Im ersten Moment wollte Anneke gar nichts lesen. Doch dann floss Name um Name wie von selbst in ihre Augen, und obwohl sie die Menschen nicht gekannt hatte, überkam sie eine seltsame Trauer.
    Bei einem der Namen stockte sie schließlich.
    Nicolaus Hansen.
    Wo hatte sie ihn schon mal gehört?
    Ihr Verstand wanderte zurück zu jenem Nachmittag, als sie mit Friedas Magd Wäsche aufgehängt hatte.
    »Der Sohn von Peer Hansen«, drängte sich ihr ein Erinnerungsfetzen ins Gedächtnis. »Nicolaus Hansen führt bereits das Handelskontor …«
    Jetzt war ihr klar, warum Frieda Bollerstrue so geklagt hatte.
    Fieberhaft suchte sie den Namen Magdalenas, doch der stand nicht auf der Liste.
    Dafür entdeckte sie im nächsten Augenblick etwas, das sie bis ins Mark erschreckte.
    Ganz unten hatte jemand mit fahriger Schrift Tjorven Peersson geschrieben. Anneke zweifelte nicht daran, dass es sich um die Schrift von Inga handelte.
    Warum lag das Schriftstück hier so offen herum? Wollte Inga ihren Mann zwingen, den Tod ihres Sohnes zur Kenntnis zu nehmen? Wollte sie an sein Gewissen appellieren?
    Oder war es gar ein grausamer Scherz des Wirtes, die Liste eigenhändig zu ergänzen?
    Nein, die Schrift wirkte so zart, dass sie nur eine Frauenhand zu Papier gebracht haben konnte.
    Anneke schob die Liste wieder an den Platz zurück und versuchte, den Schriftzug und auch den Namen von Friedas Schwiegersohn fürs Erste aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.
    Der kurze Moment des Glücks mit Ingmar war verflogen, jetzt hallte in ihrer Erinnerung wieder das Kreischen der verzweifelten Mutter nach und ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest.
    Bevor Gitta mitbekam, dass sie wieder zurück war, und sie mit Fragen über ihren Liebsten löcherte, huschte sie schnell die Treppe hinauf.
    *
    Als Anneke im Arbeitskleid die Treppe herunterkam und begann, die Stühle von den Tischen zu räumen, war die Totenliste wieder verschwunden.
    Hatte Gitta sie vielleicht weggenommen?
    Das bezweifelte sie.

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