Sturmsegel
wahrscheinlich für alle Zeiten sein.
Als sie vor dem Grab standen, dachte Anneke wieder an ihre Mutter. Und sie dachte an den Weg, der hinter ihr lag. Noch vor wenigen Monaten hätte sie sich nicht vorstellen können, was alles geschehen würde.
Der Wind strich sanft über den Rosenstrauß vor dem Grabkreuz, eine Biene steuerte summend eine der Blüten an. Es waren wilde Rosen, wie sie auf dem Hof der Svenssons wuchsen. Sie wirkten frisch, offenbar hatte Ingmars Vater kurz vor ihnen das Grab besucht.
»Wenn wir jemals nach Stralsund reisen«, sagte sie leise, nachdem sie eine Weile schweigend vor dem Hügel gestanden hatten, »wirst du dann auch zum Grab meiner Mutter kommen?«
Sie wusste nicht, warum ihr das gerade jetzt einfiel, aber es erschien ihr wichtig.
»Natürlich werde ich das«, versprach Ingmar. »Nach dem, was du von ihr erzählt hast, wären sie und meine Mutter gute Freundinnen geworden.«
»Vielleicht haben sie im Himmel die Gelegenheit dazu.«
Anneke legte sanft ihre Hand auf seine Schulter. Ingmar ergriff sie, zog sie näher an seine Wange und hauchte einen Kuss darauf. »Ich bin sicher, mein Vater und deiner könnten sich ebenfalls anfreunden …«
Ein jäher Schrei schreckte sie unvermittelt auf.
»Mörder!«
Die Stimme überschlug sich geradezu vor Hass.
Als sie herumwirbelten, erblickten sie eine schwarz gekleidete Frau, die mit dem Finger auf Ingmar zeigte. Ihr Gesicht war von Trauer und durchweinten Nächten gezeichnet. Ihre Augen funkelten voll Hass.
Anneke überlief es eiskalt. Genauso schien es Ingmar zu gehen.
»Ich habe keine Ahnung, wen du meinst!«, entgegnete Ingmar. »Ich habe gewiss niemanden getötet!«
»Doch das hast du!«, kreischte die Frau. »Das verfluchte Schiff, an dem du mitgebaut hast! Oder willst du leugnen, dass du der Sohn von Hendrick Svensson bist?«
Die Frage, woher diese Frau Ingmar kannte, blieb Anneke im Hals stecken. Eine furchtbare Angst überkam sie plötzlich, denn weitere Trauernde kamen und schienen der Frau recht zu geben. Was sollte sie tun, wenn sie Ingmar angriffen?
»Ich leugne es nicht, dass er mein Vater ist«, entgegnete Ingmar, und ihm war anzuhören, wie viel Beherrschung es ihn kostete, seine Stimme fest klingen zu lassen. »Aber ich sage dir, dass wir uns nichts haben zuschulden kommen lassen.«
»Pah!« Die Frau spuckte auf den Boden. »Jeder von euch trägt Schuld! Der Zimmermann, der die Balken nicht richtig gesägt hat, der Nagelschmied, dessen Nägel vor der Zeit verrostet sind, ihr alle!«
Die Frau beschrieb mit ihrer Hand einen großen Bogen, als ob sich hinter Ingmar und Anneke noch andere schuldige Schiffsbauer befänden.
»Wenn du schon vor diesem Grab da hinten dein Knie beugst, dann beuge es gefälligst auch vor denen jener Menschen, die auf diesem verfluchten Schiff umgekommen sind!«, keifte sie weiter.
Ingmar schloss die Augen. Es fiel ihm überaus schwer, der Frau nichts zu entgegnen, das konnte Anneke ihm ansehen.
»Lass uns gehen«, murmelte er schließlich, während weitere Schimpftiraden auf ihn niederprasselten. Anneke nickte und folgte ihm durch die Grabreihen.
»Seht, da geht er!«, schrie die Frau hinter ihm her. »Er kann seine Füße noch auf den Boden setzen. Die meines Sohnes werden gerade von den Fischen gefressen.«
Zustimmung kam von allen Seiten, doch glücklicherweise machten sich die Menschen nicht die Mühe, ihnen nachzulaufen. Am Friedhofstor konnte man nicht mehr verstehen, was sie riefen, aber das Weinen der Mutter, die hierher kam und Blumen vor ein Kreuz legte, unter dem kein Toter lag, folgte ihnen wie ein Gespenst.
*
Auf dem Rückweg zur Schenke war Ingmar sehr still. Die Worte der Trauernden wogen schwer auf seiner Seele. Und offenbar hatten sie ihm auch Angst vor weiteren Angriffen gemacht.
Sie wählten einen versteckten Weg zur Brücke, an ein paar Gärten vorbei. Die Grillen zirpten hier und der Geruch von reifenden Pflaumen strömte in ihre Nasen.
Anneke war die Trauer der Frau sehr nahegegangen, auch aus Gründen, die mit dem Schiffsunglück nichts zu tun hatten. Mit Ingmar hingegen sehr viel.
»Wie mag es wohl sein, jemanden zu haben, den man liebt?«, platzte es aus ihr heraus und sie bereute es gleich wieder, denn wahrscheinlich würde er sie nun für gefühllos halten.
Doch gehörte die Liebe nicht auch zum Leben wie der Tod?
Ingmar wandte sich um.
»Weißt du das nicht?«, fragte er sie und ein Lächeln vertrieb ein wenig die Traurigkeit aus seinen
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