Sturmsommer
antiker, wie Mama betont. Es ist irgendwie witzig, wenn man sich auf der Treppe plötzlich selbst begegnet.
Lissi bleibt hier in letzter Zeit immer lange vor dem Spiegel stehen. Wirklich immer. Bei jedem Treppenlaufen. Ich zähle mit. Sie verliert auf der Treppe viel Zeit, seit sie 17 ist und sich in den Chris verliebt hat. Dabei sieht sie ja doch jedes Mal so aus wie am Tag davor. Finde ich.
Ich mag den Chris nicht besonders. Er behandelt mich oft wie ein kleines Kind. Manchmal behandelt er sogar Lissi wie ein kleines Kind. Das mag ich noch viel weniger. Er soll froh sein, dass sie mit ihm zusammen ist. Ich kann gar nicht begreifen, was sie an ihm so toll findet. Gut, er ist groß und ziemlich sportlich und hat immer ein paar coole Sprüche auf den Lippen. Aber trotzdem verstehe ich nicht, warum Lissi ständig vor dem Spiegel hängt, an ihren Haaren herumdreht und sich stundenlang im Bad einschließt. Manchmal schminkt sie sich sogar. Dann kommt sie mir fast schon fremd vor.
Sehe ich denn wie einer aus, in den man sich verliebt? Ich weiß nicht. Mittelgroß, dünn, blonde Locken, grüne Augen, ein paar Sommersprossen.
Mir fällt der Kinderreim ein, den wir in der Grundschule oft gesungen haben. »Grüne Augen, Froschnatur, von der Liebe keine Spur.« Haha. Mir soll’s recht sein. Ich hab ja Damos.
Ich hole mein Fahrrad aus der Garage und radle Richtung Stall.
»Mensch, Pferd, hast du wieder einen Dreck in deiner Box!« Ich hantiere mit der Mistgabel, während Damos mit seinem weichen Maul prustend in meinen Haaren wühlt. Eigentlich ist das nicht meine Aufgabe, das Ausmisten, aber ich mache es gerne, weil ich dann länger bei Damos sein kann. Wenn das Stroh wieder frisch und sauber ist, setze ich mich oft noch zu ihm in die Box und schaue ihm beim Fressen zu. Nachher muss ich sowieso unter die Dusche.
Mama hat sich früher immer über den Pferdegeruch geärgert. »Ich seh schon, der wird wie du«, hat sie dann zu Papa gesagt. Und Papa bekam einen Blick, als würde er gerne wieder nach Pferd stinken. Ich selbst liebe den Geruch. Es ist der beste Geruch der Welt.
Aber jetzt mache ich erst mal einen langen Ausritt. Und danach werde ich ja sehen, ob ich noch Zeit für Opern habe. Denn es ist endlich wieder schön lange hell abends. Und es riecht schon nach Sommer.
Wie immer vor einem Ausritt klopft mein Herz schneller als sonst. Mama und Papa haben es nicht gerne, wenn ich alleine mit Damos rausgehe. Eigentlich hab ich ihnen auch versprochen, dass ich immer jemanden mitnehme. Aber das ist gar nicht so einfach. Es gibt hier nicht viele in meinem Alter, die ein eigenes Pferd haben. Und wenn, dann sind es Mädchen. Manchmal begleitet mein Reitlehrer mich und Damos oder ein paar Frauen aus meiner Dienstagabendreitstunde. Aber dann komme ich mir immer so blöd vor. Die sind zwar nett, aber sie quatschen ununterbrochen miteinander, über Frauenkram, und ich hab es lieber, wenn es still ist um uns herum. Damit ich jeden einzelnen Hufschlag von Damos hören kann und sein regelmäßiges Schnaufen und Prusten. Ich mag diese Pferdegeräusche. Oder ich mache es ganz anders und lasse einfach meinen iPod laufen. Aber das darf Papa wirklich nie erfahren, sonst gibt es richtig Ärger.
Ruckzuck hab ich Damos gesattelt und ihm die Trense angelegt. Endlich kann es losgehen. Mein Magen macht einen kleinen Satz, als ich Damos aus der Stallgasse führe und mich auf seinen Rücken ziehe. An den Musiktest mag ich jetzt nicht mehr denken. Der ist schön weit weg.
Es gibt nur noch Damos und mich und die warme Sonne, die mir ins Gesicht scheint. Auf den ersten Metern tut Damos wie immer so, als würde er sich vor allem und jedem fürchten. Eine Katze läuft über den Weg, Henri rennt ihr bellend hinterher. Damos zuckt zusammen und reißt den Kopf hoch. Ein Traktor knattert. Damos springt hektisch zur Seite. Ein anderer Reiter kommt mir entgegen. Damos bleibt stocksteif stehen und macht dann zwei kurze Galoppsprünge. Ich kenne das inzwischen und muss darüber lachen, obwohl ich mich ab und zu zusammen mit ihm erschrecke.
Aber jetzt haben wir den Stall hinter uns gelassen. Vor uns liegen nur noch Felder und Wiesen. Ich merke, dass Damos laufen möchte. Galoppieren. Seine Flanke zittert leicht und er bewegt unruhig den Kopf. Ich kann es kaum erwarten.
Ich gebe den Zügeln nach und muss nur an Galopp denken, da startet Damos schon durch. Als würde er wissen, was in mir vorgeht.
Wir fliegen dahin, der Wind treibt mir die Tränen in
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