Sturmsommer
warmer Wind streicht durch die Bäume.
Mitten im Song, den Toni begeistert, aber sehr falsch mitkräht, gehe ich rüber zu Tanja. »Komm mal mit«, flüstere ich in ihr Ohr.
Weiter hinten habe ich ein paar Felsblöcke entdeckt, die von Tannen umschlossen sind. Hier können wir ungestört sein. Sie folgt mir, ohne nachzufragen, was ich dort will. Ich setze mich auf einen Stein, der noch warm von der Hitze des Tages ist, und ziehe die Beine an. Sie lehnt sich gegenüber an die Tanne. Ihr Haar hebt sich wie Feuer von dem dunklen Stamm ab.
»Ich glaube, wenn wir jetzt nicht darüber reden, dann schaffen wir es nie mehr«, sage ich ernst. Mann. Das war einer von diesen Lissi-Sätzen. Die ich eigentlich nicht mag, weil sie so erwachsen sind. Und jetzt sage ich selbst schon solche Sätze. Einen kurzen Moment lang ist mir das unheimlich. Aber ich weiß, dass ich recht habe.
Sie senkt ihre Augen und stochert mit den Füßen im weichen Boden herum. Es riecht nach Harz und Erde.
»Ich wollte nicht tot sein. Ehrlich nicht. Ich will nur manchmal einfach nicht da sein. Für einen Moment. Einfach weg sein, nicht erreichbar. Mich abschalten.«
Jetzt schaut sie mich an. Tausend kleine Sommersprossen tanzen über ihr Gesicht. Ich sehe, dass sie nicht lügt. Ihre grauen Augen sind offen und ehrlich. Noch nie hat sie mich so angeblickt.
»Insgeheim hab ich auch gehofft, dass Meteor es nicht zulässt. Aber wenn er es zugelassen hätte, dann hätte es wohl so sein müssen.« Ich bekomme Gänsehaut bei ihren Worten.
Meteor hätte es nicht getan. Ich konnte ihn nur einholen, weil er immer langsamer wurde und gebockt hat. Weil er zur Seite ausgewichen ist und sich ihr widersetzt hat. Vielleicht aber auch nicht widersetzte. Sondern genau das tat, was sie eigentlich wollte. Leben. Meine Gänsehaut verschwindet und macht einer wohligen Wärme Platz.
Aber ich kapiere auch, dass ich ebenfalls Schuld an dem ganzen Mist trage. Ich hätte viel früher mit ihr reden sollen. Und vor allem begreife ich nicht, warum ich nie verstanden habe, dass ich sie mag. Im einen Moment macht sie mir Angst, im nächsten möchte ich mit ihr den größten Blödsinn erleben und sie immerzu beschützen. Aber bei all diesen Gedanken mag ich sie. Wieder hüpft es in meinem Bauch.
Sie steht noch immer am Baum und mustert mich.
»Du siehst ziemlich abgerissen aus«, grinst sie. »Irgendwie verwildert.«
»Ich bin verwildert«, entgegne ich. »Du machst mich fertig.«
»Hast du verdient, du dummer Idiot.«
Oje. Das wird noch einige Kämpfe geben in Zukunft. Irgendwie freue ich mich darauf.
»Heute Abend hatte ich das erste Mal das Gefühl, ich gehöre irgendwo dazu«, sagt sie leise und schaut rüber zum Lagerfeuer. »In der Schule und im Stall gehöre ich nicht wirklich dazu, weil ich aus dem Blumenviertel komme. Und im Blumenviertel gehöre ich nicht dazu, weil ich aufs Gymnasium gehe.«
»Du gehörst zu mir«, erwidere ich. Ihr Blick wird ganz weich.
»Droh mir nicht«, lächelt sie.
Ich strecke meine Hand aus. In der Ferne flackert ein Wetterleuchten auf. Die Bergspitzen tauchen kurz aus dem Dunkel auf und verschwinden wieder. Neben uns fängt eine Grille an zu zirpen.
Als ihre Fingerspitzen meine Hand berühren, ziehe ich sie zu mir. Sie ist leicht wie eine Feder. Es ist das erste Mal, dass ein Mädchen mir so nahe ist. Und ich weiß, dass ich es bei einem anderen nie getan hätte. Ich würde mich noch zu jung fühlen. Ich kann es nur bei ihr.
Ich will sie umarmen. Doch der Schmerz schießt wie ein Blitz in meinen Ellenbogen. Vor meinen Augen tanzen schwarze Sternchen.
»Tom - bist du okay?« Ihre Haare duften nach Gras.
»Mir ging’s nie besser«, keuche ich und versuche ganz ruhig zu bleiben. »Vielleicht brauche ich nachher doch einen Arzt.«
Geh nicht weg. Bleib noch einen Moment. Nur einen kleinen Moment.
SONNENAUFGANG
Ich schlage die Augen auf und sehe als Erstes Filippo. Er sitzt im Bett, mit einem gigantischen roten Schal um den Hals und inspiziert kritisch einen Teller mit Essen, den er auf seinen Knien balanciert. Lässig hebt er den Kopf und grinst mich an.
»Hi«, sagt er.
»Hi«, sage ich. Mein linker Arm hängt im Gips, im rechten Arm steckt eine Kanüle. Irgendjemand muss meine Haare gewaschen haben. Ich trage saubere Klamotten und liege in einem sauberen Bett. Am Fenster wehen die gepunkteten Vorhänge im Sommerwind und wieder kommt mir der Raum so hoch vor. Doch der Baum hinter dem Vorhang trägt keine Blüten
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